Was ist Dharma im Buddhismus?
Das Buddha-Dharma und die unzählbaren Dharmas
Vorbemerkung
Wir benutzen die Begriffe „Dharma“ und „Buddha-Dharma“ auf dieser Webseite regelmäßig.
Im Beitrag „Was ist Dharma“ haben wir über den Begriff Dharma in den verschiedenen religiösen und auch weltlichen Zusammenhängen gesprochen.
Heute geht es um den Begriff „Dharma“ im Buddhismus.
Merken wir uns: „Dharma“ hat im Buddhismus je nach Kontext zwei Bedeutungen, die sich im Lauf der Jahrhunderte aus der ursprünglichen Lehre heraus entwickelt haben.
1. Dharma im engeren Sinne sind die Worte des Buddha.
2. Dharmas im weiteren Sinne sind die philosophischen und psychologischen Konzepte, die lange nach dem Tod des Buddha entstanden, vertieft und fortlaufend weitergedacht wurden.
Schauen wir uns diese beiden Bedeutungen im jeweiligen Zusammenhang an:
Wie früher, so beschreibe ich auch heute nichts anderes als die Bedingungen des Leidens; und ich lehre nichts anderes als das Aufhören des Leidens.
Shakyamuni Buddha, Majihima Nikaya 221
Worte des Buddha im Pali Kanon
Dharma im engeren Sinne
Das obige Zitat des Buddha ist die kürzeste Fassung von Buddhas Lehre, die wir kennen: Alles, was er lehrte, drehte sich um die Ursachen des Leidens und den Weg, es zu beenden.
Die Bedingungen für das Leiden und den Weg, das Leiden zu beenden, formulierte er in seinen ersten Lehrreden in den Vier Edlen Wahrheiten:
1. Leiden ist in jedem Leben.
2. Dieses Leiden hat eine Ursache.
3. Wenn die Ursache beseitigt ist, gibt es kein Leiden mehr.
4. Der Weg zur Beseitigung der Ursache ist der Edle Achtfache Pfad.
Doch wie sind diese Worte des Buddha überliefert worden – und wo finden wir sie heute?
Die frühesten buddhistischen Gemeinschaften legten großen Wert darauf, Buddhas Lehrreden zu bewahren. Was uns heute als Dharma im engeren Sinne überliefert ist, sind die gesammelten Berichte dieser Reden – mündlich tradiert und später aufgeschrieben im sogenannten Pali-Kanon oder Tipitaka.
Diese Sammlung bildet bis heute die Grundlage der ältesten buddhistischen Schulen. Sie unterteilt sich in drei große Bereiche – die sogenannten „Drei Körbe“ –, die unterschiedliche Aspekte der Lehre bewahren:
die Regeln des Zusammenlebens,
die eigentlichen Lehrreden Buddhas und
die philosophische und psychologische Analyse.
Schauen wir uns diese drei Bereiche genauer an:
Die Drei Körbe (Tripitaka oder auf Deutsch: Tipitaka)
Die frühen Lehren des Buddhismus sind zunächst mündlich rezitiert worden und erst Jahrhunderte nach dem Tod des Buddha in drei Kategorien – man sagt auch: den drei „Körben“ – schriftlich formuliert worden. Es sind:
1. die Ordensregeln (Disziplin – Vinaya) der Mönchs- und Nonnen-Gemeinschaft des Buddha; es sind
2. die Lehren des Buddha (Sutras);
3. und der Abhidharma (Philosophie und Psychologie). Es geht dort nicht um wörtliche Lehrreden, sondern um systematische, abstrakte Analysen von Geist, Phänomenen und Gesetzmäßigkeiten.
Zusammen mit Buddha und Sangha (der Gemeinschaft) bildet der Buddha-Dharma die „Drei Juwelen“ (Triratna), zu denen Buddhisten Zuflucht nehmen.
Das Wort des Buddha?
Es heißt, im Pali Kanon besäßen wir das authentische Wort des Buddha.
Ist das richtig?
Ja und nein.
Was uns der Pali Kanon überliefert, sind Berichte über das Wort des Buddha, denn er selbst hat nichts geschrieben. Ob er überhaupt schreiben konnte, ist unklar. Er verließ sich darauf, dass die Mönche seine Lehrreden memorieren und getreu an die kommenden Generationen weiterreichen würden – wie in der indischen Tradition üblich. Die Worte des Buddha wurden jahrhundertelang von spezialisierten Mönchen mündlich rezitiert und weitergegeben.
Die buddhistischen Lehrreden beginnen fast ausnahmslos mit den Worten: „So habe ich gehört.“
Diese Formel stammt vermutlich von Ānanda, der nach Buddhas Tod die Lehren auswendig weitergab.
Sie markiert den Beginn der mündlichen Überlieferung – und wird traditionell als „Siegel der Authentizität“ verstanden:
Was nun an Rede folgt, so das Signal an die Gemeinde, wurde nicht erfunden – es wurde gehört.
In einer Kultur ohne Schrift war dies entscheidend: Wiederholung, Struktur, kollektive Rezitation – all das sicherte über Jahrhunderte die Überlieferung des Dharma.
Auch die innere Form der Sutras – ihr Rhythmus, ihre Wiederholungen, ihre fest gefügten Bilder – entstand aus dieser Rezitationstradition und diente dem Merken.
Palmblatt Manuskripte
Das änderte sich im ersten Jahrhundert vor Christus. Der Grund lag in den Invasionen kriegerischer Tamilen aus Südindien, die Ceylon verheerten und die Königshauptstadt Anuradhapura mitsamt ihren buddhistischen Klöstern in Trümmern legten. In dieser bedrohlichen Situation beschlossen einige ältere Mönche (thera), die Lehre des Buddha durch Niederschrift vor dem Untergang zu retten. Unter dem Patronat des soeben siegreichen Königs Vattagamani Abhaya (Herrschaft 89-77 vor Christus) riefen sie die Kanon-Rezitierer der Insel in dem zwischen Felsen versteckten Alokalena-Kloster (heute Aluvihara) zusammen, damit sie schreibkundigen Menschen den Dharma des Buddha diktierten (Mahāvamsa, Kapitel 33, Verse 100-101,2). Als beschreibbarer Stoff dienten die getrockneten und glatt geschliffenen Blätter der Talipat-Palme.

Die Palmblattmanuskripte, die so entstanden, wurden in Schachteln aus Korbgeflecht (pitaka) aufbewahrt. Man nennt deshalb den aus den drei Sammlungen Vinaya, Sutta und Abhidhamma bestehenden buddhistischen Kanon den „Dreikorb“ – Tripitaka oder auf Deutsch: Tipitaka.
Ungefähr so sehen die Palmblattmanuskripte aus, hier eines aus Thailand:

Die Drei Körbe
Im nächsten Bild sind schematisch die Drei Körbe abgebildet, mit ihren Sammlungen zur Disziplin, den Lehrreden und der Philosophie.

Der Vinaya-Pitaka ist der erste Korb des Pali-Kanons und enthält die Ordensregeln für Mönche (Bhikkhus) und Nonnen (Bhikkhunis). Er beantwortet vor allem Fragen zu Disziplin, Ethik und Zusammenleben in der Sangha.
Im Vinaya-Pitaka taucht die Einleitungsformel „Evam me sutam“ (Pali) – „So habe ich gehört“ seltener auf als im Sutta-Pitaka, aber sie kommt vor – vor allem bei den Abschnitten, die Regelverstöße erklären und durch Geschichten hinterlegt werden. Auch einige größere Rahmentexte der Vinaya beginnen mit „Evam me sutam“
Das Sutta-Pitaka ist der zweite Korb des Pali-Kanons und enthält die Lehrreden des Buddha. Es beantwortet eine Vielzahl zentraler Fragen zum Dharma, zur Praxis und zur menschlichen Existenz.
Die meisten der Sutren im Sutta-Pitaka beginnen mit der Formel „Evam me sutam“ (Pali) – „So habe ich gehört“. Diese Formel markiert, dass der Überlieferer (meist Ananda) die Lehre direkt vom Buddha gehört hat und sie nun wortgetreu wiedergibt. Sie ist ein Stilmittel der mündlichen Überlieferung und signalisiert: Dies ist authentische Lehrrede des Buddha.
Der Abhidhamma-Pitaka ist der dritte Korb des Pali-Kanons und enthält eine systematische Analyse der buddhistischen Lehre. Während die Sutta-Pitaka sich mit praktischer Unterweisung und ethischer Orientierung befasst, untersucht der Abhidhamma die zugrunde liegende Struktur der Realität.
Er beantwortet vor allem Fragen zur Natur des Geistes, zur Realität und zur Funktionsweise von Karma und Befreiung.
Im Abhidhamma-Piṭaka ist die Einleitungsformel „Evam me sutam“ („So habe ich gehört“) in der Regel nicht vorhanden.
Besonders im Theravāda-Buddhismus wird der Abhidhamma-Pitaka dem Dreikorb zugerechnet, in späteren buddhistischen Traditionen hingegen wird diese Zugehörigkeit weniger betont. Dort zählen der Abhidharma und die später entstandene Mahayana-Literatur eher zum Dharma im weiteren Sinne. Diese Unterscheidungen sind Ausdruck des fortlaufenden Nachdenkens, Interpretierens und Weiterentwickelns der buddhistischen Lehre – philosophische Vertiefung und Ausweitung der ursprünglichen Dharma-Lehre.
Wer sich traut, kann hier eine grafische Übersicht des Tipitaka anschauen. Aber lassen Sie sich nicht überwältigen: wir werden uns diesem Konvolut in Zukunft vorsichtig nähern und wichtige Konzepte genau erläutern.
Für heute ist es genug, dass der Begriff „Dharma“ im engeren Sinne auf die Lehren in den Büchern des Dreikorb begrenzt wurde – und dass es drei Unterabteilungen in der buddhistischen Bibliothek gibt:
Disziplin (Ordensregeln),
Lehren,
Philosophie und Psychologie.
Dank der Anstrengungen jeder Generation von Lehrern und Schülern ist die Kette der Lehren Buddhas (Dharma) bis heute nicht unterbrochen worden. Deshalb ist der Buddhismus nach 2.500 Jahren immer noch eine lebendige Tradition.
Nun werden wir uns dem Begriff „Dharma im weiteren Sinne“ nähern:
Metaphysik
Dharmas im weiteren Sinne
Dharmas im weiteren Sinne: In der buddhistischen Metaphysik wird der Begriff im Plural (Dharmas) verwendet, um die Gesamtheit aller Elemente und Phänomene zu beschreiben, die die Welt ausmachen.
Ein Dharma(s) ist ein Grundbestandteil der Welt (Dharma ist alles, was der Fall ist – und auch alles, was nicht der Fall ist).
Im frühen Buddhismus bezeichnet der Begriff Dharma vor allem eines: die Lehre des Buddha. Ein Weg, dem man folgen kann – in Gedanken, Worten und Taten. Dharma ist das, was man tut, um dem Leiden zu entkommen. Dharma ist ethisches Handeln, klösterliche Disziplin, Meditation. Ein praktischer Kompass.
Doch je tiefer der Buddhismus über Jahrhunderte und Kontinente hinweg seine eigene Lehre befragt, desto mehr verschiebt sich der Blick: Was ist das eigentlich, was wir „die Welt“ nennen? Was bleibt, wenn wir alles untersuchen, was da aufsteigt und vergeht?
Die Antwort der späteren buddhistischen Philosophie lautet: Nichts besitzt Eigenexistenz. Was wir als „Dinge“ erleben, sind flüchtige dharmas – Momenterscheinungen, leer von bleibendem Wesen.
Dharmas sind alles, was der Fall ist – und auch alles, was nicht der Fall ist. Sie umfassen die Gesamtheit aller Dinge, Erscheinungen und Prozesse – innen wie außen, früher, jetzt und zukünftig.
Sie erscheinen in Raum und Zeit – und bringen Raum und Zeit selbst hervor. Nichts existiert außerhalb der Dharmas. Kein Ort, keine Zeit, kein Ding ist unabhängig von allem anderen.
Aus dem Dharma des Tuns wird die Analyse der Dharmas der Welt. Und am Ende dieser Reise steht keine letzte Wahrheit mehr – sondern nur noch Raum, in dem alles geschieht.
Von Dharma zu Dharmas
„Ich lehre nichts anderes als die Bedingungen des Leidens; und ich lehre nichts anderes als das Aufhören des Leidens.“
Der Buddha litt an seinem eigenen Leben.
Er suchte nach den Ursachen für das Leiden.
Er fand Ursachen für das Leiden und einen Weg aus dem Leiden – und formulierte seine Einsicht als „Die Vier Edlen Wahrheiten“.
Er hatte sich gefragt: „Warum leide ich?“
Er hatte sich gefragt: „Was genau ist da, wenn ich sage: Ich leide“?
und er fand: „Nichts“.
Nichts, das bleibt.
Er fand nur Veränderung.
Sein Menschenbild verdichtete er in den fünf Skandhas – den fünf „Ansammlungen“ oder „Bündeln“, aus denen das erlebt wird, was wir gewöhnlich als „Ich“ bezeichnen:
1. Form (Rupa): Der physische Körper und die materielle Welt.
2. Empfindung (Vedana): Die Wahrnehmung von angenehmen, unangenehmen oder neutralen Gefühlen.
3. Wahrnehmung (Samjna): Die Fähigkeit, Sinneseindrücke zu erkennen und zu benennen.
4. Geistesformationen (Samskara): Mentale Prozesse, Absichten, Wollen, Wünsche und konditionierte Reaktionen.
5. Bewusstsein (Vijnana): Das Gewahrsein und die kognitive Verarbeitung von Erfahrungen.
Diese fünf Skandhas sind vergänglich und existieren nur in Abhängigkeit voneinander, was weiter die Illusion eines beständigen Selbst widerlegt. Der Buddha formulierte es so:
„Alle Phänomene sind vergänglich“
und nannte diese Erkenntnis: Anicca3.
Anicca ist einer der Daseinsfaktoren, die als Siegel des Buddhismus4 gelten.
Zu einem beständigen, fortdauernden „Selbst“, das auch in einem nächsten Leben manifest werden würde formulierte er sein Erkenntnis so:
„Ein jedes Phänomen ist nicht mein, nicht ich, nicht mein Selbst.“
und nannte diese Erkenntnis Anatta5: Es gibt nur ein „Nicht-Selbst, ein Nicht-Ich oder lediglich Unpersönlichkeit“.
Anatta ist einer der Daseinsfaktoren, die als Siegel des Buddhismus gelten.
Hier zeigt sich die philosophische Sprengkraft des frühen Buddhismus: Das, was wir für unser Selbst halten, zerfällt bei näherem Hinsehen in vergängliche Bestandteile. Es gibt kein unveränderliches Ich, sondern nur einen bedingten Strom von Phänomenen.
Die Sprengkraft der Einsichten des Buddha entfaltete sich in den Diskussionen und Konzilen nach dem Tod des Buddha und sprengte die Sangha und deren Ideen. Neue Konzepte und Auslegungen der Lehren und deren Anwendung entstanden in den nächsten Jahrhunderten.
Verblüffend sind die Parallelen zur Quantenphysik und zur Systemtheorie, die beide die Welt als Netzwerk wechselseitiger Beziehungen beschreiben.
Ähnlich wie die Skandhas, die nur in wechselseitiger Abhängigkeit existieren, beschreibt die Quantenmechanik, dass Teilchen nicht unabhängig von ihren Wechselwirkungen existieren, sondern erst durch ihre Relationen und Beobachtungen Form annehmen.
Die erstaunlichen Parallelen zwischen buddhistischer Lehre und moderner Systemforschung bleiben ein spannendes Feld – eines, das wir an anderer Stelle weiter erkunden werden.
Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung buddhistischer Literatur und Konzepte von der mündlichen Überlieferung bis zu den großen philosophischen Werken des Mahayana, die sovieles ändern sollten:
Abhidharma Literatur
Wie wir weiter oben gehört haben, wird von späteren buddhistischen Traditionen die Zugehörigkeit des Abhidharma zum „Dharma im engeren Sinne“ dort weniger betont als bei den Thearavadins.
Dort zählen der Abhidharma und die später entstandene Mahāyāna-Literatur eher zum Dharma im weiteren Sinne – deshalb erscheint der Abhidharma an dieser Stelle nochmal – als Abhidharma-Literatur.
Die Analyse der Daseinsfaktoren wurde in der Abhidharma-Literatur vertieft. Dabei wurden die Phänomene kategorisiert, um ihre Natur und Funktion besser zu verstehen. Ein zentrales Ziel dieser Analyse ist es, die Illusion eines beständigen Selbst zu durchschauen und die Anhaftung an ein solches Selbst zu überwinden. Durch die Erkenntnis, dass alle Phänomene kein dauerhaftes Selbst haben (Anicca), können wir erfahren, wie die Welt sich tatsächlich zeigt, wenn wir genau hinsehen – und letztlich Befreiung vom Leiden erlangen.
Prajnaparamita Literatur
Eine zentrale Strömung der Mahāyāna-Philosophie, die dieses Verständnis vertieft und gleichzeitig ad absurdum führt, ist die Prajnaparamita-Literatur, insbesondere das Herzsutra. Dieses kurze, aber äußerst einflussreiche Sūtra bringt die Lehre der Leerheit (Sunyata) in ihrer radikalsten Form zum Ausdruck. Es deklariert, dass nicht nur das Selbst leer von inhärenter Existenz ist, sondern auch die fünf Skandhas – also alle Bausteine der Erfahrung – letztlich leer sind. Die berühmte Zeile „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form“ verdeutlicht, dass Form und Leerheit nicht voneinander getrennte Zustände sind, sondern zwei Perspektiven derselben Realität.
In seiner Radikalität stellt das Herzsūtra sogar die Grundlagen von Buddhas Lehre, die Vier Edlen Wahrheiten, infrage:
Es gibt „…kein Leiden,
keine Ursache des Leidens,
keine Befreiung,
keinen Weg…“
Während die Abhidharma-Literatur versuchte, die Realität in kleinste Bestandteile zu zerlegen, um ihre Natur zu analysieren, weist das Herzsūtra darauf hin, dass eine solche Unterscheidung sinnlos sei, da alle Phänomene nicht aus sich selbst heraus existieren. Damit verbindet sich das Herzsūtra mit der Madhyamaka-Philosophie Nagarjunas, die jede Annahme über eine inhärente Existenz von Dingen hinterfragt. Diese radikale Sichtweise hatte weitreichenden Einfluss auf den Zen-Buddhismus und andere Mahayana-Traditionen.
Indras Netz
Ein anschauliches Bild für diese wechselseitige Verbundenheit ist die Metapher von Indras Netz6, ein Konzept aus der Avataṃsaka-Sūtra.
Dieses Netz besteht aus unzähligen Juwelen, die an jedem Knotenpunkt des Netzes sitzen. Jedes dieser Juwelen reflektiert alle anderen Juwelen im Netz, wodurch jedes einzelne Element untrennbar mit allen anderen verbunden ist. Dies veranschaulicht die buddhistische Erkenntnis, dass kein Phänomen isoliert existiert, sondern jedes Ding durch seine Wechselwirkungen mit allen anderen Dingen definiert wird.
Indras Netz illustriert nicht nur die Leerheit aller Phänomene, sondern auch ihre gegenseitige Durchdringung und Abhängigkeit – ein Bild, das in modernen wissenschaftlichen Theorien wie der Systemtheorie, Netzwerktheorie oder Quantenphysik erstaunliche Parallelen findet.
Ausblick
Am Rand der Unsicherheit: Die Rückkehr zum Leiden
Was als praktischer Weg begann – der Dharma als Lehre des Buddha –, hat sich über Jahrhunderte zu einer radikalen Einsicht in die Natur der Wirklichkeit verwandelt.
Am Ende dieser Reise bleibt keine „Substanz“ zurück, kein fester Halt – weder ein Ich noch ein Ding, an dem wir uns festhalten könnten.
Dharma bleibt der Weg – das ethische Handeln, das Üben, das Loslassen. Aber die Sicht auf die Welt hat sich gewandelt: Wir leben in einem Netz von dharmas, die kommen und gehen, sich gegenseitig bedingen und leer sind.
Für uns heute heißt das: Buddhistische Praxis ist nicht nur Ethik und Meditation – sie ist auch die Aufforderung, die Welt immer wieder neu zu sehen. Nicht als starres Gefüge von Dingen, sondern als lebendiges Spiel von Bedingungen und Spiegelungen.
In einer Zeit, die von Festhalten, Identität und Besitz geprägt ist, erinnert uns der Buddhismus daran: Wirkliche Freiheit entsteht dort, wo wir die Dinge nicht mehr für etwas Festes halten.
Die Dharmas sind leer – und genau darin liegt die Möglichkeit zur Veränderung, zum Mitgefühl, zur Weisheit.
Der Dharma-Weg führt nicht ins Nichts. Er führt in einen Raum, in dem alles geschehen kann.
Was bedeutet all das heute – in einer Welt, die bröckelt? In einer Zeit, in der wir täglich spüren, dass die Sicherheiten, an die wir geglaubt haben, sich auflösen: politische Ordnungen, gesellschaftlicher Zusammenhalt, sogar das Klima, das uns trägt.
Vielleicht ist das Verstörendste an der buddhistischen Einsicht, dass sie keine tröstende Gegenwelt anbietet. Kein „wahrer Kern“, an dem wir uns festhalten könnten. Keine feste Identität, kein ewiges Selbst, keine unerschütterliche Wahrheit. Nur das: Alles ist bedingt, alles vergeht.
Und genau das ist es, was so schmerzt – was uns heute so sehr ängstigt. Diese Welt, die uns keine Garantien mehr gibt, berührt denselben Nerv, den der Buddha schon vor 2500 Jahren benannt hat: Dukkha – das Leiden daran, dass nichts bleibt, wie es ist; dass wir mit Alter, Krankheit und Tod konfroniert sind; dass wir zusammenleben müssen mit Menschen oder Dingen, die wir nicht mögen; und dass wir nicht bekommen, was wir wollen.
Der Buddha, die Traditionslinie, die Meister der Vergangenheit fordern uns Heutige dazu auf: nicht mehr zu fliehen, nicht mehr verzweifelt nach Halt zu suchen, sondern diese Leere als offenen Raum zu begreifen. Einen Raum, in dem alles möglich bleibt – auch Mitgefühl, Weisheit und ein Handeln, das die Welt neu verbindet.
Worüber noch zu sprechen sein wird.
FAQ
Häufige Fragen zum Dharma
Fußnoten
- Majihima Nikaya 22 – Das Gleichnis von der Kobra; Quelle: https://suttacentral.net/mn22/de/
Ähnlich hat sich der Buddha an anderen Stellen im Palikanon geäußert, z.B. hier:
„Gut, gut, Anuradha! Dies nur, o Anuradha, verkünde ich, früher wie heute: das Leiden und des Leidens Aufhebung.“
Samyutta Nikaya 44.2 Anuradha Sutta; identisch mit Samyutta Nikaya 22.86. Anuradha – 4. Anurādha Sutta; Quelle: https://www.palikanon.com/samyutta/sam22_090.html#s22_86 | ↩︎ - Im Mahavamsa (Die große Chronik von Ceylon), Kapitel 33, Verse 100-101, wird die Verschriftlichung des Pali-Kanons unter König Vattagamani Abhaya beschrieben:
„Damals schrieben die hervorragendsten der Thera-Mönche die Lehre und die Kommentare nieder, da sie sahen, dass das Volk im Schwinden begriffen war.“
Quelle: zu finden hier: archive.org | ↩︎ - Anicca (Vergänglichkeit): im Majjhima Nikāya 111 beschreibt der Buddha, wie sein Schüler Sāriputta geistige Zustände in meditativer Vertiefung untersuchte: wie sie entstehen, bestehen – und vergehen. Selbst edle Qualitäten wie Verzückung, Gleichmut oder Achtsamkeit sind nicht dauerhaft. Diese präzise Beobachtung macht die Lehre von Anicca lebendig und erfahrbar – nicht als Glaubenssatz, sondern als direkte Einsicht:
„Und die Zustände der zweiten Vertiefung – die innere Beruhigung, die Verzückung, die Glückseligkeit und die Einspitzigkeit des Geistes; der Kontakt, das Gefühl, die Wahrnehmung, der Wille und Geist; der Eifer, der Entschluß, die Energie, die Achtsamkeit, der Gleichmut und das Aufmerken – diese Zustände wurden von ihm umgrenzt, einer nach dem anderen; jene Zustände entstanden, und er hatte Kenntnis davon, sie waren gegenwärtig, und er hatte Kenntnis davon, sie verschwanden, und er hatte Kenntnis davon. Er verstand: ‚Diese Zustände treten also tatsächlich in Erscheinung, nachdem sie vorher nicht vorhanden waren; nach ihrem Vorhandensein zerfallen sie.‘ In Bezug auf jene Zustände verweilte er, ohne angezogen zu werden, ohne abgestoßen zu werden, unabhängig, ungebunden, frei, losgelöst, mit einem unbeschränkten Herzen. Er verstand: ‚Es gibt ein Entkommen jenseits davon‘, und mit der Pflege jenes Erreichungszustands bestätigte er, daß es das gibt.“
Quelle: https://www.palikanon.com/majjhima/zumwinkel/m111z.html | ↩︎ - Die Drei Siegel des Buddhismus sind der Maßstab, an denen jede Lehre oder Behauptung gemessen werden kann, um zu erkennen, ob sie dem Buddha-Dharma entspricht. Sie beschreiben die grundlegende Beschaffenheit allen Daseins:
Anicca – Vergänglichkeit
Alles Zusammengesetzte ist unbeständig. Nichts bleibt, wie es ist – weder Gedanken, Gefühle, Körper noch äußere Dinge.
Dukkha – Leidhaftigkeit
Weil alles vergänglich ist, kann festhalten oder sich klammern niemals dauerhaftes Glück bringen.
Leiden entsteht, wenn wir an Dingen hängen, die sich verändern.
Anatta – Nicht-Selbst
Es gibt kein unveränderliches, unabhängiges Selbst. Was wir als „Ich“ empfinden, ist ein Zusammenspiel wechselnder Prozesse.
Man kann es so zusammenfassen: Nur wo alle Drei Siegel gleichzeitig drauf sind, ist auch Buddhismus drin. | ↩︎ - Anatta (Nicht-Selbst): Im Anattalakkhana Sutta (Die Merkmale des Nicht-Ich) – Samyuta Nikaya (SN 22.59) leitet der Buddha seine 5 Freunde aus seiner asketischen Vergangenheit zu der Einsicht, dass in diesem Körper kein überdauerndes „Ich“ oder „Selbst“ existiert:
„Ist Form (rūpa) dauerhaft oder vergänglich?“
– „Vergänglich, Herr.“
„Was vergänglich ist – bringt das Glück oder Leid?“
– „Leid, Herr.“
„Was vergänglich, leidvoll und Veränderungen unterworfen ist – kann man mit Recht sagen: ‚Das gehört mir, das bin ich, das ist mein Selbst‘?“
– „Nein, Herr.“
So fragt der Buddha nacheinander weiter in Bezug auf:
Form (rupa)
Gefühl (vedana)
Wahrnehmung (sanna)
Gestaltungen (sankhara)
Bewusstsein (vinnana)
und schließlich stimmen ihm die fünf Gefährten zu:
„…was es irgend an Körperlichkeit gibt—an Gefühl—an Wahrnehmung—an Gestaltungen—an Bewußtsein gibt, sei es vergangen, künftig oder gegenwärtig, eigen oder fremd, grob oder fein, gewöhnlich oder edel, fern oder nahe—von jeder Körperlichkeit—jedem Gefühl—jeder Wahrnehmung—allen Gestaltungen—jedem Bewußtsein gilt: ‚Dies ist nicht mein, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst!‘ So hat man dies der Wirklichkeit gemäß mit rechter Weisheit zu betrachten.“
Quelle: https://mail.dhammatalks.net/suttacentral/sc2016/sc/de/sn22.59.html | ↩︎ - Der Buddha im 30. Buch des Buddhavatamsaka Sutras vertritt eine ähnliche Idee:
„Wenn unzählige Buddha-Länder auf Atome reduziert werden,
sind in einem Atom unzählige Länder, und wie in einem, so in jedem.
Die Atome, auf die diese Buddha-Länder in einem Augenblick reduziert werden, sind unaussprechlich,
und so sind auch die Atome der kontinuierlichen Reduktion von Moment zu Moment, die seit unermesslichen Äonen andauert;
Diese Atome enthalten unaussprechlich viele Länder, und die Atome in diesen Ländern sind noch schwerer zu beschreiben.“
Quelle: Wikipedia Indras Net | ↩︎