Erleuchtung
Eine Flamme, sobald sie entzündet ist, erhellt ein Zimmer, das vorher dunkel war.
Nun, da ich etwas sehen kann, kann ich mich zurechtfinden in dem Zimmer. Ich kann mich bewegen, ohne ständig an Tische oder Bänke zu stoßen. Sobald ich mich orientiert habe, kann ich anfangen, die Dinge, die im Zimmer sind, kennenzulernen um sie dann nach Belieben zu benutzen.
War ich vorher blind, bin ich nun sehend.
Fragen, Suchen, Finden
Es ist wie die Suche nach einem verlorenen Schlüssel. Eine Frage existiert: „Wo ist der Schlüssel?” Ich wandere durch die Wohnung und suche. Ich weiß, der Schlüssel muss irgendwo sein. Für jeden von uns mag die Frage eine andere sein. „Wer bin ich?”, „Was ist der Sinn des Lebens?”, „Was soll ich tun?”, „Wo ist der Schlüssel?”
Für Siddharta Gautama, den späteren Buddha, war die Frage: „Wie kann ich mein eigenes Leiden und das Leiden aller Wesen lindern oder sogar beenden?”. Viele Jahre suchte und irrte er. Im Alter von 35 Jahren saß er – der Legende nach – unter einem Baum an einem Fluss, als er zur Antwort seiner Lebens-Frage Uruvela (Bodhgaya).
. Es soll die erste Vollmondnacht im April/Mai gewesen sein, in Indien im Jahr 528 v. Chr. nahe des OrtesWie es wirklich war, werden wir nie wissen: Die frühesten geschriebenen Berichte stammen aus dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung – also einige hundert Jahre nach Buddhas Lebenszeit. Die Zeit der Suche des Siddharta Gautama und die Nacht der Erweckung werden beschrieben im Pali-Kanon in der Abteilung der »Mittleren Sammlung« (Majjhima Nikaja, dort MN 26 und MN 36).
„Das ist das Leiden” verstand ich der Wahrheit gemäß. „Das ist die Leidensentwicklung” verstand ich der Wahrheit gemäß. „Das ist die Leidensauflösung” verstand ich der Wahrheit gemäß. „Das ist der zur Leidensauflösung führende Pfad” verstand ich der Wahrheit gemäß. „Das leidhafte Leben gibt es nicht mehr für mich!”
Mit diesen Worten umriss er die Vier Edlen Wahrheiten, die den Kern seiner Erkenntnis und Befreiung ausmachen. Von diesem Moment an nannte er sich Buddha (der Erwachte); und für ihn persönlich war – vorerst – die Suche nach Heilung vom Leiden beendet. Für seine Lehre war die Erkenntnis erst der Anfang.
Jeden Stein umdrehen und tief graben
Frage, Suche und Ausdauer verhalten sich zueinander wie Feuersteine, die in ihrer Reibung Funken schlagen. Meister Dogen nennt diese innere Ausrichtung „Bodaishin”, den Buddha suchenden Geist. Dieser Geist aus Frage, Suche und Ausdauer ist die Voraussetzung für das Aufleuchten des Funkens. Im Zen gibt es für den Moment des Aufleuchtens verschiedene Worte: Kensho, Satori und Dai Kensho.
Alle drei Begriffe beziehen sich auf einen Blick in die eigene „Wahre Natur«. Dieser Begriff klingt so geheimnisvoll und ist deshalb verwirrend. Er beschreibt eine angenehm freudig-heitere aber auch aufregende Erfahrung, die viele von uns schon als Kinder hatten: mitten im Spielen kommt die Welt auf uns zu und wir wissen ohne jeden Zweifel: „Ich bin die Welt und die Welt ist ich…” – für einen Augenblick sind wir eins geworden mit allen Phänomenen: Menschen, Tieren, Pflanzen, mit dem Wasser, mit Bergen, Felsen, Steinen, Kieseln, Sand und Staub. Eine uralte Erinnerung, älter als wir selbst, hat sich anstrengungslos offenbart.
Siddharta Gautama selbst hatte eine solche Kindheitserinnerung. Damals, als sein Vater den Acker pflügte, hatte Siddharta im Schatten eines Rosenapfelbaumes gesessen. Auf einmal tauchte er in einen Zustand ohne jede Anspannung oder Störungen ein: Diese „Vertiefung” versetzte ihn in Verzückung und Glückseligkeit, so
(MN 36) – und ihm kam das Bewusstsein: „Das ist der Pfad zur Erkenntnis”.Kensho, Satori und Dai Kensho waren ihm auf seinem Pfad beschieden, kleinere Einsichten, aufblitzende Erkenntnisse und letzlich ein großes Erwachen, das seinem Leben Richtung geben sollte: er wurde ein unübertrefflicher Lehrer darin, andere zum Erwachen zu leiten – und zum Verwirklichen eines erwachten Lebens.
Wegmarken zum Gipfel
In einem unwegsamen und nebligen Gelände sind Kensho und Satori Wegmarken. Kensho und Satori blitzen auf als ein plötzlicher Einfall: „Oh, ich erinnere mich, wo ich den Schlüssel hingelegt habe…” und ich ahne, wohin ich meine nächsten Schritte lenke. Angekommen bin ich noch nicht – und die Erinnerung wird verblassen.
Kensho erscheint in Kontakt: Mein Zeh stößt an ein Tischbein; ich höre das Platschen eines Frosches im Teich; eine alte Frau reicht mir einen Reiskuchen…
Satori taucht eher in Zazen auf; als eine Wolke, die sich auflöst: Für einen Moment liegen Landschaft und Weg klar vor Augen.
Es kann viele Wegmarken brauchen, um am Gipfel anzukommen, aber es gibt meist nur ein Kreuz auf dem Gipfel.
Dai Kensho (oder Großes Satori) – bleibende Erkenntnis – ist der Ort des Gipfelkreuzes. Mit Sicherheit weiß ich, dass ich angekommen bin. Ich habe den Schlüssel gefunden und kann ihn benutzen, um die Tür zu öffnen.
Mit der Erleuchtung beginnt der Abstieg
Jedoch: Erfahrung und Geschichte zeigen, dass hier die Arbeit erst beginnt. Der Gipfel ist lebensfeindlich; verharren im Absoluten führt zu Leiden. Jedes Festhalten an – oder Verharren in – einem bestimmten Zustand ist schwer zu ertragen, ist z.B.: SN 56.11). Dukkha wird beschrieben als ein Rad, das feststeckt in seiner Achse. Der Wagen ist unbrauchbar.
(Deshalb muss ich vom Gipfel wieder absteigen – das wird die
genannt.Absteigen vom Gipfel und Rückkehr in die Täler und Marktplätze ist der Beginn des Buddhismus.
Es ist die Manifestation und Verwirklichung des erleuchteten Lebens: Nachdem ich den Schlüssel benutzt habe, lege ich ihn an seinen richtigen Platz zurück. Jederzeit ist er für mich erreichbar, sobald ich ihn brauche.
Dieses freie Handeln wird „Sukha“ genannt: Ein Rad, das sich in seiner Achse frei bewegen kann. Der Wagen kann fahren.
Diese unendliche Spirale von Dukkha zu Sukha und zurück nennt Meister Dogen das Studium des Selbst:
„Buddhismus zu studieren, heißt das Selbst zu studieren.
Das Selbst zu studieren, heißt das Selbst zu vergessen.
Das Selbst zu vergessen, heißt von den zehntausend Dingen (Dharmas) erleuchtet zu sein.“
Seit vielen Zeitaltern haben sich alle Buddhas und Patriarchen dieser Landkarte anvertraut. Für jeden von uns öffnet sich in diesem Vertrauen die eigene Schatzkammer von selbst, und wir werden ihren Inhalt nach Belieben nutzen können.