Die 10 Leiden des Siddhartha
Was sagst du da so Sonderbares?
Siddhartha Gautamas Familie und Freunde
Verlassen willst Du uns?
Du stößt uns einen Speer ins Herz! [1]
Prolog
Siddhartha leidet am Leben
Es ist ein schwüler Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Der Mann hatte sich in seinen feuchten Kleidern gewälzt und nicht weiterschlafen können. Er rollt sich an den Rand der Liege und setzt sich auf. Er legt seine Hände an die Schläfen, als er sich an die Nacht erinnert. Zwanzig junge Frauen, schön wie Göttermädchen, hatten seit dem Abend für ihn und die Gäste getanzt [2].
Betrunken vom Rausch des Lebens muss er kurz nach Mitternacht eingeschlafen sein. Mit den Handballen reibt der Mann seine Augen und starrt, noch blind, in die Dunkelheit. Er tastet nach dem Licht und entzündet eine Kerze.
Als er um sich blickt, erschrickt er: Männer und Frauen umgeben ihn; sie liegen neben- und übereinander, schlafend. Einigen läuft der Speichel aus dem Munde und besudelt ihren Leib. Andere knirschen mit den Zähnen, einige lallen und reden verwirrtes Zeug im Schlaf, andere halten den Mund weit offen und bei manchen haben sich die Kleider verschoben. Der reich geschmückte Saal kommt ihm vor wie ein wüstes Leichenfeld. Sein Dasein erscheint ihm wie ein brennendes Haus [3].
Du mußt die Ketten sprengen, jetzt!“, sagt eine Stimme in ihm. Der Platz, auf dem er sitzt, wird unerträglich heiß. Der Mann springt auf und flieht den Ort.
Zitternd tastet er, vorbei an den Leibern, den Weg zu seiner Kammer. Mit bebenden Händen packt er acht Dinge ein: drei große ockerfarbene Tücher als Kleidung, eine Essschale, ein Rasiermesser, eine Nähnadel, einen Gürtel und ein kleines Sieb [4].
Die Flucht ist ihm verlockender als das Leben, das er zurücklassen will. Er schließt leise die Tür hinter sich und wirft einen Blick in das Schlafzimmer seiner Ehefrau, die das Köpfchen des Neugeborenen in ihren Händen hält [5]. „Nein, nun werde ich nicht meinen Sohn ein letztes Mal in die Arme nehmen – meine Frau würde aufwachen und könnte mich zurückhalten: Das darf nicht sein…“. Schläfst Du, Yasodhara, wirklich?
Der Mann will das Haus verlassen. Der dunkle Geist des Zweifels [6] versucht ihn zurückzuhalten. „Kann ich nicht noch umkehren? All der Schmerz, den ich verursache? All die Annehmlichkeiten, die ich habe? Alles aufgeben – für was?“ Schweißperlen rinnen seine Stirn hinunter, wieder überfällt ihn ein Zittern und Schwindeln am ganzen Körper.
„Nein – es muss sein…“, und mit der Kraft eines Elefanten [7] drückt er die Tür [8] auf.
Ohne zurückzusehen [9] wirft er auf der Straße sein Gepäck über die Schulter und geht der aufgehenden Sonne entgegen.
Erster Akt
Die Dämonen des Siddhartha
Seine Familie – die Familie Gautama [10] – hatte den Mann nach seiner Geburt vor 29 Jahren „Siddhartha“ genannt – „Er hat sein Ziel erreicht“, so wäre unsere Übersetzung.
„Siddhartha Gautama“ – so ist der volle Name des Mannes: „Er hat sein Ziel erreicht und führt die Herde an“.
Es scheint, sein Name habe ihm bis zu seinem 29. Lebensjahr nicht den Erfolg gebracht, den er verheißt.
Siddhartha war aufgewachsen im Haushalt eines indischen „Raja“. Obwohl dieser Titel oft mit „König“ übersetzt wird, ist die Stellung des Vaters eher vergleichbar mit dem Präsidenten eines deutschen Regierungsbezirkes [11].
Der Vater, Suddhodana Gautama, hat genaue Vorstellungen davon, was sein Sohn werden soll. Gerne sähe er, dass Siddhartha ihm als Regent nachfolgen würde.
„Ich möchte meinen Sohn sehen, wie er über die von zweitausend Inseln umgebenen vier Erdteile die Herrschaft, die Gewalt, die Regierung ausübt…“ [12]
Suddhodana Gautama
Siddhartha erlebte seine Kindheit und Jugend als herrschaftlich:
„Ich lebte in Vornehmheit, äußerster Vornehmheit, völliger Vornehmheit. Ich hatte drei Paläste, für jedes Wetter einen. Ich aß das vornehmste Essen und trug die vornehmsten Kleider. Von Geburt an war ich umgeben von den schönsten Frauen und den stärksten Männern…“ [13]
Der Palast bot Vornehmheit – und scheinbare Sicherheit. Für Siddhartha jedoch war die Vornehmheit nur ein Umhang, der jederzeit von ihm genommen werden konnte – und alle würden die Angst und den Zweifel sehen, die sich des Kindes früh bemächtigt hatten.
Es war damals gewesen, als Siddhartha zum ersten Mal neben seinem Vater sitzen durfte: Der Regent schaute seinen lieben Sohn an, umarmte ihn, setzte ihn auf seinen Schoß und ließ sich erfreut auf seinen Sitz nieder. In diesem Augenblick wurden vier Räuber herbeigebracht; von diesen verurteilte der Vater den einen zu tausend Hieben mit dornenbesetzten Peitschen, den andern zur Fesselung und Aufbewahrung im Gefängnis, den dritten dazu, dass sein Körper mit Spießen zerstochen werde, den vierten zur Pfählung. Da bekommt Siddhartha, der schon von Natur ängstlich ist, noch mehr Furcht: „Meine Vorfahren taten grausame, die Hölle verdienende Taten. Wenn ich meinen Vorfahren, meinem Vater, folge und deren Leben weiter so lebe, werde ich in der Hölle wiedergeboren werden und schweres Leid erdulden.“ Als er so überlegte, befiel ihn noch größere Furcht. Sein goldfarbener Körper wurde missfarbig und welk wie eine Lotosblume, die man mit der Hand berührt.
Angst und Zweifel haben Siddhartha als Wohnung genommen, indem sie seine Gedanken so lenken:
„Zu vertrocknen und zu sterben ist besser für mich als auf den Thron zu kommen. Wie kann ich mich wohl aus diesem Räuberhause befreien?“ [14]
Von nun an stellt sich der junge Siddhartha – zumindest zeitweise – taub und stumm [15] gegenüber Vergnügungen und Sinnesfreuden des Palastes. Mit kritischer Gründlichkeit [16] untersucht er stattdessen die Bedingungen seines Lebens.
Wie genau er auch beobachtet, wie unterschiedlich er seine Experimente anordnet und die Gelehrten seiner Zeit fragt [17], er stellt als Tatsache fest:
„Ich selbst, wie mein Vater und meine Mutter, meine Ehefrau und alle Kinder sind der Geburt, dem Altern, der Krankheit, dem Tod und dem Kummer unterworfen. Mägde und Knechte, Ziegen und Schafe, Geflügel und Schweine, Elefanten, Rinder, Pferde, Gold und Silber – kurz: alles Zusammengesetzte – sind der Geburt, dem Altern, der Krankheit, dem Tod und dem Kummer unterworfen.“ [18]
Es ist, so folgert Siddhartha, unmöglich, Sicherheit in diesen zusammengesetzten Phänomenen zu finden:
„Es ist ausgeschlossen, dass ich hier, in meinem behüteten Leben, Sicherheit finde. Es ist ausgeschlossen, dass ich in den Dingen Sicherheit finde. Es ist ausgeschlossen, dass ich Sicherheit finde, wenn ich meinem Vater als Herrscher und Regent folge…“ [19]
und er lenkt seine Gedanken in die Gegenrichtung:
„Weil ich die Gefahr in dem, was der Geburt, dem Altern, der Krankheit, dem Tod und dem Kummer unterworfen ist, erkannt habe [20], muss ich das Ende der Welt, ihr Gegenteil, erreichen – dort, wo man nicht geboren wird, nicht altert, nicht stirbt, kein früheres Dasein verlässt, zu keinem neuen Dasein gelangt.“ [21]
„Es gibt einen schmalen, sicheren, hinüberführenden, alten Weg zur Erlösung. Auf ihm ziehen die Weisen, die Brahmakenner zum Himmel empor, zur Freiheit vom Leiden.“
Brihadaranyaka-Upanishad
Zweiter Akt
Siddharthas Flucht
Der Archetyp des Mönches war Prinz Siddhartha bekannt, aus den Upanishaden und Brahmanas der Spätveden [22] und den eigenen Begegnungen [23]. Ganz bestimmt hat er als Kind und Jugendlicher sogenannte Samanas in der Stadt Kapilavastu getroffen. Die Samanas hatten allen Besitz aufgegeben, wanderten umher, lebten von Almosen und suchten die Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten.
Siddhartha stellte sich vor, wie es wäre, wenn er selbst diesen Weg der Samanas zur Suche wählen würde:
„Das Leben eines Haushälters ist eng und staubig; das Leben in der Hauslosigkeit ist weit und offen. Während man zu Hause wohnt, ist es nicht leicht, das heilige Leben zu führen, das zutiefst vollkommen und rein ist, wie eine polierte Muschel. Angenommen, ich rasiere mir das Kopfhaar und den Bart ab, ziehe die gelbe Robe an und ziehe vom Leben zu Hause fort in die Hauslosigkeit.“ [24]
Es mag Jahre gedauert haben, in denen Siddhartha mit diesen Fragen gekämpft hat – in der Vorstellung, wie es wäre, wenn…
Vielleicht ist es kein Zufall, dass er mit seiner „Welt-Flucht“ gewartet hat, bis er seiner Familie einen Sohn und Nachfolger gezeugt hatte. Vielleicht ist es umgekehrt kein Zufall, dass die Ehe mit Yasodhara dreizehn Jahre kinderlos geblieben war? Die Erzählungen geben jedenfalls viele Hinweise, dass die Geburt seines Sohnes, den er Rahula (Fessel) nannte, in engem zeitlichen Zusammenhang mit seinem Aufbruch in die Hauslosigkeit stand.
Viele Jahre später, als er der Buddha geworden war, beschreibt er den Moment des Aufbruchs nüchtern:
„Auf der Suche nach dem höchsten Zustand erhabenen Friedens, rasierte ich mir Kopf- und Barthaar ab, zog die gelbe Robe an und ging von zu Hause fort in die Hauslosigkeit, obwohl meine Mutter und mein Vater das nicht wünschten und mit tränenüberströmtem Gesicht weinten.“ [25]
Siddhartha Gautama
Dritter Akt
Siddhartha verursacht Tränen und Leid
Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob sich der Aufbruch des Siddhartha in die Hauslosigkeit so zugetragen hat, wie im Jataka geschildert: Heimlich und in der Nacht. Anzunehmen ist, dass Siddhartha seinen Wunsch mit seiner Familie besprochen hatte – und dass er mit seinem Weggang großes Leid verursachte. Aus den Sutren wissen wir, dass nicht nur seine Eltern „mit tränenüberströmten Gesicht weinten“, sondern dass in Familie, bei Freunden und im Volk Unverständnis, Wut und Vorwürfe laut wurden [26]:
Siddharthas Mutter klagte:
„Ein Unglück war’s für mich, dass ich deine Mutter bin [Jataka 525, §4] dass ich dir das Leben gab, weil du auf meine Klagen nicht Rücksicht nehmend […] die Welt verlässt.“ [Jataka 525, §5]
Sein Vater sagte:
„Was ist dies für eine Tugend und was für eine Weltflucht […], dass du auf uns zwei Alten nicht Rücksicht nehmend, […] die Welt verlässt?“ . [Jataka 525, §6]
und er ermahnt Siddhartha, an sein Kind zu denken:
„Du hast Söhne auch in zartem Alter, nicht erwachsen; wenn diese Lieben dich nicht sehen, befällt sie, glaub ich, großes Leid.“ [Jataka 525, §7]
Seine Ehefrau sagte:
„Ein Unglück war’s für mich, […], dass ich deine Gattin wurde, weil du auf meine Klagen nicht Rücksicht nehmend, […] die Welt verlässt. [Jataka 525, §11]
Alle – Familie, Freunde und Volk – stellen die gleiche Frage:
„Ist denn dein Herz dir ganz gespalten oder hast du zu uns kein Mitleid, dass du auf uns, die Weinenden, nicht Rücksicht nehmend, […] die Welt verlässt?“. [Jataka 525, §9]
Des Buddhas Antwort klingt herzlos, obwohl er Mitgefühl beteuert:
„Nicht ist mein Herz mir ganz gespalten und Mitleid fühl ich gegen euch; doch da ich nach dem Himmel strebe, darum will ich die Welt verlassen.“ [Jataka 525, §10]
und er legt nach:
„Von diesem meinen Kinde auch, dem schönen, und auch von euch allen muss ich mich ja doch später trennen.“ [Jataka525, §8]
Seine Freunde und Vertrauten fassen die Gefühle aller Zurückgelassenen zusammen:
„Was sagst du da so Sonderbares? Du stößt uns einen Speer ins Herz.“ [Jataka 525, §2]
Stellvertretend für alle, die diesen Speer im Herzen fühlen, ist es das edle weiße Pferd des Siddhartha, das tödlich getroffen ist vom Weggang des Siddhartha: der Hengst, Kanthaka, geht außer Sehweite, und da er seinen Kummer nicht zu ertragen vermag, bricht ihm das Herz und er stirbt. [27]
„Die Welt verließ Prinz Siddhartha und gab auf dieses Reich; mit gelben Kleidern angetan wandelt er einsam wie ein Elefant.“
Das Sakya-Volk, nach der Weltflucht des Siddhartha [Jataka 525, §49]
Epilog
Müssen auch wir bis zum Ende der Welt reisen?
Wenn sich die Vorstellung des Suddhodana auch auf ein völlig anderes geografisches Weltbild [28] als das heutige bezog, so ist es doch erstaunlich, dass sich sein Wunsch 2500 Jahre später erfüllt hat:
„Ich möchte meinen Sohn sehen, wie er über die von zweitausend Inseln umgebenen vier Erdteile die Herrschaft, die Gewalt, die Regierung ausübt…“
Müssen wir körperlich Haus, Hof und Familie [29] – manchmal unseren Kontinent – verlassen, um über den Kontinent, der wir selber sind, die freie Herrschaft auszuüben?
Wenn wir die Geschichtsbücher lesen: einige Menschen müssen körperlich die Heimat verlassen, einige müssen es nicht.
Jeder jedoch muss zum Ende des Kosmos reisen. Der Buddha, als er gefragt wurde, ob man durch Reisen zur Befreiung gelangen könnte, antwortete:
„Ich sage Euch, Freund, daß es nicht mit Reisen möglich ist, das ferne Ende des Kosmos, wo man keine Geburt, Alter, Tod, Dahinscheiden oder Wiedererscheinen annimmt, zu sehen oder zu erreichen. Aber zur selben Zeit, sage ich Euch, daß da kein Endemachen des Leidens, ohne das Erreichen des Ende des Kosmos, ist. Doch ist es genau innerhalb dieses klafterlangen Körpers, mit seiner Vorstellung und Verstand, daß ich erkläre, dort ist der Kosmos, der Ursprung des Kosmos, die Beendigung des Kosmos, und der Pfad der Ausübung, die zur Beendigung des Kosmos führt.“ [30]
Meister Dogen beschreibt die Reise so: „Als Siddhartha über die Stadtmauer kletterte und in die Berge ging, gab er einen Geist auf und ging in einen anderen Geist hinein. Wenn ihr diesen Geist zu euren Augäpfeln macht, leiht ihr euch den Atem der Buddhas und Patriarchen und drückt allen Dharmas das Siegel der lebendigen Erfahrung auf.“ [31]
Freunde, Sangha – lasst uns gemeinsam reisen, die Stadtmauern überklettern, den Atem der Buddhas atmen und unsere lebendige Erfahrung besiegeln…
Fußnoten
[1] Jataka 525, §2 | Die kleine Erzählung von Sutasoma | Jātaka-Erzählungen sind im Pali-Kanon ein Teil der Lehrreden ⓘ. Es existieren Übersetzungen ins Sanskrit und ins Tibetische und in andere Sprachen. Die Erzählungen gehen der Überlieferung nach auf Ananda, einen Jünger des Buddha, zurück. Ein Jātaka („Geburtsgeschichte“) ist eine Geschichte aus dem Leben des historischen Buddha, Siddhartha Gautama; später jedoch wurden mehr und mehr Lehrgeschichten eingefügt, die sich auf frühere Existenzen und andere Daseinsformen des Buddha beziehen. | Wikipedia | ↑
[2] Jataka Avidurenidana – Die nicht ferne Einleitung | J b2.06 – Die Weltflucht §271 | ↑
[3] ebd. | ↑
[4] ebd. §273 | Darauf dachte der Bodhisattva Siddhartha: „Diese meine Gewänder aus feiner Baumwolle passen nicht für einen Bettelmönch.“ Da merkte der Erzengel Ghatikara, der zur Zeit, da Kassapa der Buddha war, des Bodhisattva Freund gewesen war und dessen Freundschaft in der ganzen Zeit bis zum Auftreten des nächsten Buddha nicht abgenommen hatte, folgendes: „Heute vollbringt mein Freund die große Weltentsagung; ich will die Ausrüstung eines Bettelmönchs nehmen und damit zu ihm hingehen.“ „Die drei Gewänder und die Schale, das Schermesser, Nadel und Gürtel, dazu der Seiher: diese acht braucht ein der Andacht ergebner Mönch.“ Diese acht Ausrüstungsgegenstände eines Bettelmönchs nahm er also und gab sie ihm. Der Bodhisattva legte die Abzeichen der Heiligen an und nahm die erhabene Kleidung des Mönchsstandes in Empfang. | ↑
[5] ebd. §271 | ↑
[6] ebd. § 271 | Mara ist der Gegenspieler des Siddhartha und des späteren Buddha Shakyamuni als das Prinzip des „Versuchers“ und die Verkörperung „dessen, was Leiden verursacht“. Hier erscheint Mara mit dem Versuch, Siddhartha zur Umkehr zu bewegen: In der Luft stehend rief er: „Ehrwürdiger, gehe nicht fort! Nach sieben Tagen wird sich dir das Rad der Weltherrschaft zeigen; du wirst die Herrschaft über die von zweitausend Inseln umgebenen vier Erdteile erlangen. Kehre um, Ehrwürdiger!“ […] Da sprach der Bodhisattva: „Mara, ich erkenne wohl, dass sich mir das Rad der Weltherrschaft zeigen würde; aber ich brauche keine Herrschaft. Ich werde […] ein Buddha werden.“ Darauf erwiderte Mara: „Von nun an werde ich in dir jeden Gedanken der Lust oder des Übelwollens oder der Verletzung erkennen, sobald er erdacht ist“; und um einen Fehler an ihm zu entdecken, heftete er sich ohne wegzugehen an ihn wie ein Schatten. Der Bodhisattva aber wies die ihm in Aussicht gestellte Herrschaft über die Welt wie einen Speichelklumpen zurück und verließ die Stadt. | ↑
[7] Jataka 525 – J 525 [Cullasutasoma-Jataka] | „Die Welt verließ der [Prinz Siddhartha ] und gab auf dieses Reich; mit gelben Kleidern angetan wandelt er einsam wie ein Elefant.“ | ↑
[8] Jataka Avidurenidana – Die nicht ferne Einleitung | J b2.06 – Die Weltflucht §271 | [Siddhartha] kam um Mitternacht zum großen Stadttor. Nun hatte aber der König gedacht: „So wird [Siddhartha] auf keine Art das Stadttor öffnen und entweichen können“, und hatte es so eingerichtet, dass jeder der beiden Torflügel nur von tausend Mann zu öffnen war. [Siddhartha] aber, mit Stärke und Kraft ausgestattet, besaß, nach Elefanten gerechnet, die Kraft von zehntausend Millionen Elefanten, nach Menschen gerechnet, die Kraft von hunderttausend Millionen Menschen. […] Aber eine an dem Tore wohnende Gottheit öffnete das Tor [ohne dass Siddhartha diese Kräfte einsetzen musste]. | ↑
[9] Das Motiv der Verweigerung von Umkehr und Rücksicht als Zeichen für die Entschlossenheit des Siddhartha begegnet uns häufig in den frühen Texten. In der Einleitung zum Jataka heißt es: „Da bekam er Lust, die Stadt nochmals anzuschauen. Als aber sein Geist daran dachte, da barst die große Erde, als wolle sie sagen: „O Held, es passt nicht für dich, Halt zu machen und zurückzuschauen“, und drehte sich um wie das Rad eines Töpfers.“ Jataka Avidurenidana – Die nicht ferne Einleitung | J b2.06 – Die Weltflucht §271
Im Cullasutasoma-Jataka verweigert Siddhartha seinen Angehörigen und Freunden jede Rücksicht:
„Ist denn dein Herz dir ganz gespalten oder hast du zu uns kein Mitleid, dass du auf uns, die Weinenden, nicht Rücksicht nehmend, Fürst, die Welt verlässt?“
Siddhartha antwortet:
„O […] weine[t] nicht, sei[d] nicht betrübt mit waldesdunklen Augen! Steig[t zurück] in den Palast, denn ohne Rücksicht werd ich von hier gehen.“
Jataka 525 – Die Erzählung von Sutasoma (Cullasutasoma-Jataka) | ↑
[10] Wikipedia: Siddhartha Gautama | Gautama bzw. Gotama bedeutet „Anführer der Herde“ oder auch „größter Stier“. Der Name war aber auch vergleichbar mit unseren Familiennamen – er zeigte die Zugehörigkeit zur Gautama-Sippe an (Sanskrit: Gautama gotra, Pali: Gotama gotta), deren Angehörige alle so angeredet werden konnten. | ↑
[11] Hans Wolfgang Schumann, Der historische Buddha. Leben und Lehre des Gotama, Diederichs gelbe Reihe 73, 7. Auflage, München 1999, S. 31 f. | Eine Vorstellung von der Größe der von Suddhodana verwalteten Republik vermittelt uns der Chinese Hsüan-tsang. Das Sakiya-Gebiet, so schreibt er, habe einen Umfang von 4000 Li = etwa 1880 km gehabt und zehn – von unserem Reisenden im 7. Jh. n. Chr. zerstört und verlassen vorgefundene – Städte eingeschlossen. Die Stadt Kapilavatthu sei durch eine in den Ziegelfundamenten noch erhaltene Mauer von 15 Li = ca. 7 km Länge geschützt gewesen. Offenbar sind diese zehn Städte weitgehend identisch mit jenen neun, die in den buddhistischen Texten als Sakiya-Städte erwähnt werden, nämlich außer Kapilavatthu: Devadaha, Catuma, Samagama, Khomadussa, Silavati, Medatalumpa, Ulumpa und Sakkara. Es dürfte sich um Kreisstädte gehandelt haben, die jeweils einer Anzahl von Dörfern als Markt- und Umschlagplatz dienten. Hsüan-tsangs Angaben erlauben uns, wenn auch nur sehr grob, Rückschlüsse auf Areal und Bevölkerung der Sakiya-Republik zu ziehen. Ihre Grundfläche mag etwa 2000 qkm betragen haben, von denen ein erheblicher Teil Dschungel und landwirtschaftlich ungenutzt war. Nehmen wir für den fruchtbaren Landstrich des Zentral-Tarai rückschließend von der heutigen, höher liegenden Zahl – eine durchschnittliche Wohndichte von 90 Einwohnern pro km2 an, ergibt dies eine Gesamtbevölkerung von 180000 Menschen, wovon 8000 in Kapilavatthu und je 4000 in den acht (oder neun) Kreisstädten beheimatet gewesen sein mögen. Rund 40000 Menschen der Sakiya-Republik wären demnach Stadt-, die übrigen 140000 Dorfbewohner gewesen. Zum Kriegeradel mögen sich 10000 Personen gezählt haben, die weitgehend in den Städten lebten, gleich der Mehrheit der Bevölkerung aber der Landwirtschaft nachgingen. | ↑
[12] Jataka Avidurenidana – Die nicht ferne Einleitung | J b2.04 – Die Namengebung §270 | „Ich möchte meinen Sohn sehen, wie er über die von zweitausend Inseln umgebenen vier Erdteile die Herrschaft, die Gewalt, die Regierung ausübt und wie er von einem sechsunddreißig Yojanas im Umkreis bedeckenden Gefolge umgeben unter der Fläche des Himmels wandelt.“ | ↑
[13] Anguttara Nikaya 3.38 – Suhamala Sutta: Vornehmheit | ↑
[14] Jataka 538 (§B) – Die Erzählung von dem stummen Krüppel (Mugapakkha-Jataka) | ↑
[15] ebd. | ↑
[16] Hans Wolfgang Schumann, Der historische Buddha. Leben und Lehre des Gotama, Diederichs gelbe Reihe 73, 7. Auflage, München 1999, S. 35 f.: Ob Siddhartha zu den Lesekundigen gehörte, ist fraglich. Zwar behauptet eine späte Legende, er habe seinen Lehrer durch die Leichtigkeit verblüfft, mit der er die indischen Alphabete beherrschen lernte, – Tatsache ist aber, daß der Päli-Kanon keinen Hinweis enthält, daß der Buddha des Lesens mächtig war. Lesen zu können wurde zu seiner Zeit als nützliche, indes nicht zur Elementarbildung gehörige Fertigkeit betrachtet, zumal es in Ermanglung geeigneten Schreibmaterials noch keine niedergeschriebenen Bücher gab[…]. Die Einstellung des erwachsenen Siddhattha zu der Frage wird aus seiner Weisung an den Orden deutlich, daß sich für einen Mönch die Ausübung von Fertigkeiten wie u.a. des Schreibens nicht gezieme; der Mönch habe allein auf Erlösung bedacht zu sein (Udana 3,9: „Wer ohne eine Kunst auszuüben dahinlebt, ohne Last, auf sein Heil bedacht, ein in jeder Hinsicht erlöster Sinnenzügler), – der heimlos Lebende, dem nichts angehört, der Wunschfreie, der, nachdem er Mára geschlagen hat, allein wandelt, – der ist ein Mönch.“ [UDANA – Das Buch der feierlichen Worte des Erhabenen. Eine kanonische Schrift des Páli-Buddhismus. In erstmaliger deutscher Uebersetzung aus dem Urtext von DR. KARL SEIDENSTÜCKER]. Aus Siddhatthas lebenslangem Interesse an geistigen und geistlichen Dingen darf man schließen, daß ihm die Aneignung des für einen Khattiya-Sproß wichtigen Lernstoffes wenig Mühe bereitete. Sehr gefördert wurde seine Ausbildung durch häufige Anwesenheit bei Ratssitzungen und Gerichtsverhandlungen, bei denen sein Vater präsidierte. Die Ratshalle schulte Siddhatthas Intelligenz und erzog ihn zu Gewandtheit und Präzision des Ausdrucks. Mit seiner geistigen Entwicklung parallel ging freilich die Entfaltung von Charaktereigenschaften, die seinen realistisch denkenden Vater beunruhigt und als vermeintliche Schwächezeichen befremdet haben mögen, nämlich Empfindsamkeit und ein Hang zur Reflexion, vielleicht Grübelei. Die Einsicht, daß das Leben nicht immer erfreulich ist und hinter allem Glück (sukha) Vergänglichkeit und Leid (dukkha) lauern, kam Siddhattha nicht erst kurz vor seinem Auszug in die Hauslosigkeit, wie die Legende uns glauben machen will, sondern überfiel ihn bereits als Jugendlichen, als er, frei von äußeren Sorgen, noch in der Obhut der Familie lebte. Der zum Buddha gewordene Siddhartha berichtet von dieser Zeit im Anguttara Nikaya 3.38 – Sukhamala Sutta: Vornehmheit: Auch wenn ich mit solch einem Glück bestückt war, solch völliger Vornehmheit, kam dieser Gedanke in mir auf: ‚Wenn ein Ununterrichteter, Allerweltsmensch, selbst dem Tod unterworfen, den Tod nicht überwunden, andere tot sieht, ist er entsetzt, gedemütigt und angewidert, vergesslich gegenüber sich selbst, daß auch er dem Tod unterworfen ist, den Tod nicht überwunden hat. Wenn ich, der ich dem Tod unterworfen bin, über den Tod nicht hinaus, entsetzt, gedemütigt und angewidert wäre, würde das für mich nicht passen‘ Als ich das bemerkte, fiel die [typische] Berauschtheit einer Person am Leben, gänzlich von mir ab. | ↑
[17] Der Buddha hatte vor seiner Erleuchtung fünferlei Lehrer, so heißt es im Milandaphana 4.6.1 (Die Fragen des Milinda): Jene acht Brahmanen, o König, die bei dem eben geborenen Bodhisatta die körperlichen Merkmale untersuchten – als wie Kāma, Dhaja, Lakkhana, Mantī, Yañña, Suyāma, Subhoja und Sudatta – und die über sein Wohlergehen berichteten und seine Überwachung übernahmen: diese waren seine ersten Lehrer. Fernerhin: der Brahmana Sabbamitta, der aus edlem, vornehmen Geschlechte stammte und ein Sprachkundiger war, ein Grammatiker, in den sechs Hilfsbüchern des Veda bewandert, den des Bodhisattas Vater Suddhodana zu jener Zeit holen ließ und, während man das Weihwasser aus einem goldenen Gefäße ausgoß, dem Knaben als Lehrer übergab: dieser war sein zweiter Lehrer. Jene Gottheit fernerhin, die den Bodhisatta in Unruhe brachte und deren Worte vernehmend, der Bodhisatta in Unruhe und Erregung geraten, in jenem Augenblicke hinauszog und dem Weltleben entsagte: diese war sein dritter Lehrer. Fernerhin – nach dem Aufbruch in die Hauslosigkeit: Alāra Kālāma, der ihm den Weg zum meditativen Gebiet der Weder-Wahrnehmung-noch-Nicht-Wahrnehmung (siehe jhāna) wies: dieser war sein vierter Lehrer. Sein fünfter Lehrer aber war Uddaka Rāmaputta. Wir zählen diesem Bericht nach 10 Lehrer bevor der Buddha in die Hauslosigkeit ging. | ↑
[18] Anguttara Nikaya 3.38 – Suhamala Sutta: Vornehmheit und Majjhima Nikaya 26, 5-12 | ↑
[19] Dem Sinne nach z.B. Anguttara Nikaya 3.38; Majjhima Nikaya 36; Jataka 525, oder Jataka 538 | ↑
[20] Majjhima Nikaya 26, 13 | ↑
[21] Anguttara Nikaya 4.45 – Rohitassa Sutta | ↑
[22] Der Brahmana Sabamitta, in den Veden bewandert, war einer von Siddharthas frühesten Lehrern (vgl. Fußnote 17 und hier: Milandaphana 4.6.1 (Die Fragen des Milinda)). Von Sabamitta wird Siddhartha auch das Brihadaranyaka-Upanishad (siehe auch hier) gekannt haben, in dem es heißt: Es gibt einen schmalen, sicheren, hinüberführenden, alten Weg…, den ich gefunden habe. Auf ihm ziehen die Weisen, die Brahmakenner zum Himmel empor, zur Erlösung. Auf ihm, sagt man, ist Weißes, Blaues, Gelbes, Grünes, Rotes. Das ist der Weg, der durch das Brahman gefunden ist; auf ihm geht der Kenner des Brahman gluterfüllt und fromme Werke tuend. | ↑
[23] In den Jatakas wird die Begegnung mit einem Mönch so geschildert: Als nun der Bodhisattva an einem anderen Tage nach dem Parke fuhr, sah er einen von den Gottheiten geschaffenen Mönch, der in richtiger Weise oben und unten bekleidet war, und er fragte den Wagenlenker: „Wer ist das, Lieber?“ Nun kannte der Wagenlenker, weil es ja noch keinen Buddha gab, einen Mönch und die Vorzüge des Mönchtums allerdings nicht; aber auf Eingebung der Götter sagte er: „Es ist ein Mönch, o Fürst“, und pries die Vorzüge des Mönchtums. Der Bodhisattva fand Gefallen an der Weltflucht… Jataka Avidurenidana – Die nicht ferne Einleitung | J b2.06 – Die Weltflucht §271 Siddhartha wuchs im 6. Jahrhundert v.Chr. auf im Spannungsfeld des einerseits alten traditionellen vedisch-brahmanischen Opferkults und andererseits den unterschiedlichen emanzipatorischen Bewegungen wie den Aupanisadas, Materialisten, Asketen und Wandermendikanten auf. Den größten Zulauf hatten die Samanas, die sich dem Brahmanentum, der Autorität der Veden sowie dem Kastenwesen widersetzte und die Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten (moksha) abseits von diesen Institutionen suchte. Zahlreiche Asketen zogen hinaus in die Wälder, um dort zu meditieren und im Zuge ihrer Weltentsagung aus eigener Kraft die Befreiung aus dem Samsara zu erlangen. Auf diese Weise bildeten sich Gruppierungen mit einer teilweise beachtlichen Anhängerschaft, die ihre Lehren als aufklärerischen Gegenentwurf zum etablierten Brahmanismus verstanden. Siddhartha gewann seine Überzeugungen aus dem Kontakt mit all diesen Gruppierungen. (vgl. Wikipedia). | ↑
[24] Majjhima Nikaya 36, 12 | ↑
[25] Majjhima Nikaya 26, 15 und Majjhima Nikaya 36, 14 | ↑
[26] Besonders eindringlich sind die Ereignisse in der „kleinen Erzählung von Sutasoma“ (Cullasutasoma-Jataka) beschrieben, der die folgenden Verse entnommen sind. Zwar erzählt der Buddha eine Geschichte aus einem früheren Leben, aber er beendet seine Rede mit den Worten: Damals waren die Eltern Angehörige der Großkönigsfamilie, Canda war Rāhulas Mutter, der älteste Sohn war Sariputta, der jüngste Sohn war Rāhula, die Amme war Khujjuttara, der Großkaufmann Kulavaddhana war Kassapa, der Haupt-Heerführer war Mogallana, der Prinz Somadatta war Ananda, der König Sutasoma aber war ich. Die Paragrafen beziehen sich auf diese Übersetzung: Die kleine Erzählung von Sutasoma, Jataka 525 | ↑
[27] Jataka Avidurenidana – Die nicht ferne Einleitung | J b2.06 – Die Weltflucht §273 | ↑
[28] Im Laufe der Jahrhunderte der vedischen Zeit wurden die Kosmologien immer komplexer. Die Grundstruktur des Kosmos blieb jedoch mehr oder weniger gleich. Sowohl der Hinduismus als auch der Buddhismus teilen das Konzept der Mittelachse oder des Weltberges Mount Meru in Sanskrit, Sumeru in Pali. Diese ist an den vier Himmelsrichtungen von vier Kontinenten umgeben, von denen einer von Menschen bewohnt ist. Das Universum, das durch den Berg Meru vertikal verbunden ist, ist in drei übereinanderliegende Ebenen unterteilt. Die Unterwelt und die Höllen bilden die unterste Ebene, die Welt der Menschen die mittlere Ebene und die der Himmel die höchste. Alle diese Ebenen sind in der Regel in mehrere Unterebenen unterteilt. | ↑
[29] An dieser Stelle ist ein wichtiges Detail erwähnenswert: Der Buddha selber hatte seine Familie verlassen – gegen den Widerstand seiner Eltern. Wissend, welchen Schmerz er selber verursacht hatte (und welche zerstörerischen wirtschaftlichen Folgen der Weggang eines Ernährers in die Hauslosigkeit haben konnte), erlaubte eine Ordination in seinen Sangha nur, wenn der Kandidat eine Erlaubnis seiner Eltern vorweisen konnte: „Hast du die Erlaubnis von deinen Eltern erhalten, Raṭṭhapāla, vom Leben zu Hause fort in die Hauslosigkeit zu ziehen?“ „Nein, ehrwürdiger Herr, ich habe die Erlaubnis von meinen Eltern nicht erhalten.“ „Raṭṭhapāla, Tathāgatas geben niemandem die Erlaubnis, in die Hauslosigkeit zu ziehen, der die Erlaubnis seiner Eltern nicht erhalten hat.“ (Majjhima Nikaya 82, 6) und auch in den Vinya: „Hast du die Erlaubnis deiner Eltern?“ Anwärter: „Ich habe, Ehrwürdiger Herr!“ PATIMOKKHA- Upasampadakamman – Die Handlung der Hochordination, Absatz 11 | ↑
[30] Anguttara Nikaya 4.45 – Rohitassa Sutta | ↑
[31] Meister Dogen: Shobogenzo. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges. Heidelberg-Leimen, 2003. Kapitel Shinjin gakudo, Band 2. S.281 | ↑