Straßen, Zen und Bodybuilding 1

1998 habe ich einige Erlebnisse meiner ersten zehn Jahre Zenpraxis aufgeschrieben. Ich habe mir damals die Ereignisse eines Morgensitzens während eines Sesshins vorgestellt und davon erzählt. Wenn Sie wollen, folgen Sie mir, dem Erzähler, in den Meditationsraum: Wir betreten gemeinsam das Zendo, suchen unseren Platz und setzen uns auf das Meditationskissen…

Vor dem Morgen Zazen

VOR DEM ZAZEN, 5:50 Uhr bis 6:00 Uhr

5:50 Uhr
Mit dem linken Fuß voraus betrete ich den Meditationsraum, das Zendo, und verbeuge mich zum Altar. Im Dunkel erkenne ich nur schwach die Schattenrisse derjenigen, die vor mir ins Zendo gekommen sind und auf ihren Kissen warten. Mein Platz ist auf der anderen Seite des Altars und ich muß den weiten Weg durch die Reihen nehmen, hinter dem Altar vorbei, zu den Kissen schräg seitlich vom Platz des Zen-Meisters, des Roshi. Von dort habe ich einen guten Blick über den ganzen Saal; ich mag die Stelle, ich habe Glück gehabt.

5:51 Uhr
Kühl ist es im Zendo und ich friere an den nackten Füßen. Morgen werde ich Socken anziehen. Jetzt spüre ich den Holzfußboden unter den Fußsohlen, es quietscht leise, als ich vor meinem Kissen stehenbleibe und mich vor meinem Platz verbeuge. Ich drehe mich um, so daß ich dem Altar nicht den Rücken zukehre und verbeuge mich ein zweites Mal, knapp, zu den mir gegenüber sitzenden Menschen. Von drüben antwortet mir eine Gestalt mit zusammengelegten Händen.
Ich trete rückwärts auf die Matte und setze mich auf das Kissen.

5:52 Uhr
Ich lasse mir Zeit, die Beine zu kreuzen. Mit angezogenen Beinen hocke ich auf dem Kissen. Ich versuche, Zeit zu schinden. Bereits vier Tage unbewegtes Sitzen, Zazen, stecken uns im Körper und noch einige Tage liegen vor uns. In der Mitte dieser Meditationswoche, des Sesshin, kommt meine Bequemlichkeit durch. Ich suche mir Nischen, in denen ich mich erholen kann. Jetzt spüre ich die Müdigkeit, die Augen sind schwer, die Muskeln sauer, die Knochen dick. Trotzdem fühle ich mich erfrischt nach der Nachtruhe und bin gespannt, was der Tag bringen wird. Der zeitliche Ablauf ist klar geregelt, jede Minute ist verplant und denken müssen wir nicht – aber genau darum wird es gehen: Was bringen Geist, Denken und Gefühle heute auf uns zu?
Der äußere Rahmen des Sesshins sind täglich die vier Meditations-Blöcke mit je drei mal dreißig bis vierzig Minuten Zazen, unterbrochen von der Gehmeditation. Die Mahlzeiten nehmen wir auch im Sitzen ein: also halten wir uns runde acht Stunden in der formalen Meditationshaltung.
Eine zweistündige Arbeitsperiode vormittags, Samu genannt, und zwei Stunden schweigende Mittagspause gliedern den immer gleichen Tagesablauf. Einfach, aber mit vielen Fallstricken für das Ego.

5:54 Uhr
Mein rechter Nachbar ist vor seinem Kissen angekommen und verbeugt sich. Ich antworte ihm mit meiner Verbeugung. Er läßt sich nieder, streicht seine Matte glatt, kreuzt die Beine, atmet tief und streckt seinen Rücken. Seit vier Tagen habe ich nicht mit ihm gesprochen! Für mich wird es nun Zeit, meine Zazen-Position einzunehmen, damit ich nicht hastig in eine ungünstige Haltung komme, nur weil vielleicht der Roshi eine Minute früher kommt und ich noch nicht die beste Lage erkundet habe. Ich habe jeden Morgen Angst, eine Falte unter meinen Sitzbacken zu haben, die meinen Blutkreislauf stört; oder schief zu sitzen, so daß sich ein Schmerz anschleichen kann, dem ich dann bewegungslos standhalten muß, unter den Augen des Roshi.

5:55 Uhr
Ich senke meine Knie auf den Boden und lege den rechte Fuß vor den Linken. Über die gekreuzten Beine beuge ich mich nach vorne und schüttele das mit Buchweizen-Spelze gefüllte Kissen auf, und stopfe es unter meinen Po. Dann neige ich den Oberkörper vor und zurück, bis ich das Gefühl habe, komfortabel zu sitzen. Zwickt da nicht etwas? Ich wiege mich hin und her, kreise, sortiere meine Kleider und fühle mich unsicher wie jeden Morgen, obwohl ich mich schon viele tausend Male auf so ein Kissen gesetzt habe. Es ist ein Abenteuer, eine Expediton in die Weiten meines Geistes, in die Tundra meines Wesens und die Farben meines Seins.

5:57 Uhr
Die letzten Gestalten huschen eilig zu ihren Plätzen. Roben flattern und hastig nehmen die Spätkommer Position ein, ein letztes Seufzen – im Zendo wird es sehr still.

5:59 Uhr
Von draußen hören wir Schritte, das Wehen von Stoff, Bewegung – laut klappert Holz auf Holz: das Signal, daß der Roshi die Zendo-Schwelle überschritten hat. Ich weiß, daß es nun kein Zurück gibt, die Zeit steht still…

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