Was ist Kanzeon?

Kanzeon Zen Zentrum Düsseldorf - Statue

Kanzeons Herkunft

Sie saß oben auf einem Schrank. Ich legte meine Hände wie Scheuklappen an die Scheibe, um in der Dunkelheit besser in den Verkaufsraum zu sehen. Ein Laden für Räucherwerk, Asiatika und feine Tücher in der Düsseldorfer Altstadt. So eine wie sie hatte ich noch nicht gesehen. Ich war nicht sicher: war das eine Kanzeon? 
Wir waren damals auf der Suche nach einer Statue für unsere Kanzeon Sitzgruppe auf der Helmholzstraße. Wie es ist, wenn man etwas sucht: plötzlich taucht es überall auf. Ich sah überall Kanzeon.
Ich war auf dem Heimweg vom Sitzen, eben hatten wir noch über den Kauf einer Statue gesprochen. Kopfschüttelnd ging ich weiter. War es eine Kanzeon? 

Kanzeon ist im Buddhismus der Name für die Verkörperung von Mitgefühl. Kanzeon ist Mitgefühl und gehört zur Familie der Bodhisattvas. Doch was ist ein Bodhisattva?

Der Buddhismus erzählt die Geschichte von unserem Dasein als Mensch – eine Familiengeschichte. In dieser Erzählung tauchen viele Mitglieder der Familie auf. Eine davon ist “Buddha”. Buddha hat sich von allen Anhaftungen befreit und deshalb von allem Leiden. Deshalb mag Buddha nicht mehr handeln – noch nicht einmal zu lehren.

Das Mahavagga erzählt uns, wie der eben zum Buddha gewordene Shakyamuni  Gotama 49 Tage in der “Wonne der Befreiung” verweilte und alles war ihm “gleich gültig”. Der König der hinduistischen Götter, Brahma Sahampati, hatte sieben Wochen nach dessen Erleuchtung den Buddha gebeten – nein: angefleht -, die Welt über seine Entdeckung zu unterrichten. 

Nicht willig, irgendetwas zu tun, sagte der Buddha dem Gott Brahma ab: 

“Was unter Mühen ich erlangt – Genug! Wozu verkündigen? Das wäre für mich Erschöpfung, das würde nur Quälerei für mich sein. Brahma, da neigt sich bei mir der Geist zur Gleichgültigkeit, nicht zur Darlegung der Lehre.“ [1]

Der Buddha zu Brahma

Der Buddha, schließlich, ließ sich überreden und beschloss aus Mitgefühl für die anderen Wesen, ihnen sein “Dharma” darzulegen. Er wählte die Rückkehr in die Welt – und damit Quälerei und Leiden. Seitdem wirkte auch er als Bodhisattva. 

Neben dem Buddha sitzen am Familientisch die Bodhisattvi oder der Bodhisattva – ebenfalls von den meisten Anhaftungen befreit, allerdings mit dem Wunsch, handeln zu wollen zum Wohle aller Wesen. Handeln zu wollen selbst ist eine Anhaftung und verursacht Leiden. Wissend, dass sie in die Welt des Leidens zurückkehren müssen, um zu wirken, wählen die Bodhisattvas/is das Leiden.

Kanzeon als Mitglied der Bodhisattva-Familie

Wenn es eine Statue der Kanzeon war, dann gefiel sie mir nicht. Es war etwas falsch mit den Proportionen, die Haltung – nein, sie gefiel mir nicht.
Am nächsten Tag zog mich – etwas – in die Altstadt. Straks steuerte ich in die Ratinger Straße, in das Geschäft mit den Asiatika, Tüchern und Räucherwerk. Das Glöckchen an der Tür rief die Eigentümerin herbei. Ob wir die Figur da oben auf dem Schrank gemeinsam herunterholen könnten, fragte ich. Selbstverständlich.
Schwer war sie – ist sie bis heute – unsere Kanzeon.
Sie gefiel mir nicht. Was war das in ihrer rechten Hand? Und etwas grob geschnitzt, schien mir. Und die Proportionen…

Es gibt viele Bodhisattvas. Kanzeon ist jene/r Bodhisattva, von dem bzw. der die meisten unterschiedlichen Erscheinungsformen im Buddhismus gibt.
Andere Manifestationen von Kanzeon sind Avalokiteśvara, “der Herr, der herabschaut”. Der Bodhisattva, der die “Klänge” oder “Schreie” (on音) der “Welt” (ze 世) “sieht” oder “wahrnimmt” (kan 觀) und mit Mitgefühl (jihi 慈悲) antwortet, um die Wesen vor allen Arten von Unglück und Leiden zu retten. Es heißt, Tara (तारा ) sei die Essenz des Mitgefühls, denn sie sei aus den Tränen entstanden, die Avalokitesvara aus Mitgefühl mit allen Wesen vergoss.

Einige Tage verbrachte ich damit, zu verschiedener Stunde das Geschäft zu besuchen. Die Statue gefiel mir nicht, aber sie lockte mich. Schließlich rief ich unsere damalige Vereinsvorsitzende (und heutige Ehrenvorsitzende) Linda Lehrhaupt [2]an und berichtete von der Statue. Wir verabredeten uns für den nächsten Mittag in der Ratinger Straße.
„Mir gefällt die Statue nicht wirklich – irgendetwas ist mit den Proportionen… lassen wir es…“ sagte Linda zu mir. Ich war froh. Endlich eine Entscheidung.

In Japan wird Kanzeon „Kannon-Bodhisattva“ (Kannon Bosatsu 觀音菩薩) und „Kanjizai-Bodhisattva“ (Kanjizai Bosatsu 觀自在菩薩) genannt. Bilder von Kanzeon nehmen viele verschiedene Formen in Ostasien an, wo trotz der Tatsache, dass Avalokiteśvara im Sanskrit ein männliches Substantiv ist, dieser Bodhisattva als eine weibliche Figur verstanden wurde, die (neben vielen anderen Dingen) mit mütterlicher Güte, Hilfe bei der Geburt und dem Schutz von Kindern assoziiert wird. Bilder der Elfgesichtigen Kannon (Jūichimen Kannon 十一面觀音) und der Tausendhändigen Kannon (Senju Kannon 千手觀音) – in den Handinnenflächen jeweils ein Auge – veranschaulichen die Vorstellungen, dass Kanzeon überall hinsehen kann und mit den zweckmäßigen Mitteln (hōben 方便) ausgestattet ist, die benötigt werden, um effektiv auf jede Art von Notfall zu reagieren [3].

chinesisch: Guanyin 観音/观音 oder Guanshiyin 觀世音/观世音(„die Töne der Welt wahrnehmend“);
koreanisch: 관세음 Kwan(se) Um oder Gwan(se)-eum (mit derselben Bedeutung wie im Chinesischen);
japanisch: 聖観音 (Sho-)Kannon, auch 観世音, Kanzeon („die Stimmen der Welt hörend“) oder älter Kanjizai bzw. Kōzeon (光世音, „die Stimme der Lichtwelt“);
tibetisch: སྤྱན་རས་གཟིགས, Spyan ras gzigs, Aussprache: Chenrezi, auch Chen rezig [deutsch in etwa: Tschenresi(g)];
mongolisch: ᠨᠢᠳᠦ ᠪᠡᠷ ᠦᠵᠡᠭᠴᠢ, Nidubarüsheckchi, ᠵᠠᠨᠷᠠᠶᠢᠰᠢᠭ, Жанрайсиг, Dschanraisig;
vietnamesisch: Quán Thế Âm [4].

Womit ist Kanzeon beschäftigt?

Zwei Tage später rief Linda mich an: „Ich war jeden Tag auf der Ratinger Straße“ sagte sie. „Sie lässt mich nicht los – wir sollten die Statue doch zu uns ins Zendo einladen“.
Am nächsten Tag trafen wir uns mit dem ganzen Vorstand in dem Asiatikaladen mit dem Räucherwerk, den Tüchern – und der Kanzeon.
Niemandem gefiel sie so richtig. Nur Linda und ich plädierten für den Kauf.
Der Vorstand lehnte ab. „Wir werden eine bessere Figur finden!“ hieß der Beschluss.
Später, viele Wochen später, erzählte mir die Eigentümerin des Ladens: „Also, mich hat das ja schon genervt, dass jeden Tag da mehrere Leute auftauchten und die Figur sehen wollten. Ich habe sie dann gar nicht mehr oben auf den Schrank gestellt. Ich bin froh, dass Sie sich endlich entschieden haben. Und ich freue mich, dass diese schöne Figur nun in ihrem Verein ihren Platz findet…“

Kanzeon hat ihre Wohnung in jedem Menschen und stellt dem Buddha, dem alles gleich gültig ist, das Mitgefühl zur Seite.

Ist Kanzeons Hauptbeschäftigung das Meditieren?

Wenn sie Zeit dazu hätte: ja.

Aber nein: sie hört die Schreie der Welt und ist mit ihren tausend Armen, ihren tausend Augen und tausend Ohren ständig unterwegs, zu geben: dem Trauernden Trost, dem Trinker sein Trinken, dem Coronafürchtenden eine Impfung, dem Leugner seinen Beweis – und jedem Leidenden Hilfe.

Buddha verhält sich zu Kanzeon wie der Vater zur Mutter oder der Große Geist zum Großen Herz.

Fußnoten

[1] Mahāvagga Vinaya, Kapitel 1 Abschnitt 5 |  ↑

[2] Viele von uns bei Kanzeon Sangha Deutschland e.V. haben mit Linda Myoki Lehrhaupt in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren begonnen. Einige bei der Volkshochschule, denn Linda leitete dort den Kurs „Zen-Meditation“. 1988 war ich auch in einem ihrer Kurse.

Linda wies uns ins Sitzen ein – und in die Philosopie: sie spielte ein Spiel mit uns, ein Zen-Spiel mit unlösbaren Fragen. »Denkt nicht, daß ich euch eine schwere Frage stellen will – aber ich möchte von jedem von euch wissen, was bedeutet für dich persönlich: Eins und Eins?«
Alles schwieg und dachte nach.
»Das Universum und der Einzelne?« fragte jemand.
»Aha«, sagte sie.
»Gott und der Mensch?« antwortete ein anderer.
»Mmmh…« sagte sie.
Es ging reihum und jeder hatte etwas gefunden: »…die tiefste Wahrheit?«, oder: »…ich werde damit sitzen!«.
Ich wollte besonders klug sein und hatte mir eine echte Zen-Antwort ausgedacht, kurz und direkt: »Ich und du!«
»ZWEI!!! Two!« rief Linda mit ihrem amerikanischen Akzent und zeigte zwei Finger hoch. »Eins und eins ist ZWEI!… Ist EINS UND EINS nicht für jeden von euch zwei?!… Mein Lehrer spielt dieses Spiel immer wieder mit uns in anderen Formen, und alle fallen darauf herein und sagen Ich und Du oder das Gesetz in uns und die Sterne über uns… aber Zen ist nicht geheimnisvoller als: Eins und Eins ist Zwei.«


Das war die erste authentische Zen-Lehre die ich bekam, über Linda direkt von Genpo Roshi und von der Zentradition. Ich bekam rote Ohren und schämte mich – »eins und eins« sei »ich und du«? Da hatte jemand einen Köder ausgeworfen und ich hatte angebissen.


Seit 2012 ist Dr. Linda Myoki Lehrhaupt, Sensei, die leitende Lehrerin der Zen-Herz-Sangha, einer intereuropäischen Gruppe von Zen-Praktizierenden, mit Sitz in Deutschland.

Linda’s Biographie
Zur Zen-Herz-Sangha |

[3] Glossar der Soto Schule |

[4] ebd. |

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