Straßen, Zen und Bodybuilding 3

Das erste Morgenzazen hat gerade begonnen und ich erinnere mich: bisher haben wir das Zendo betreten, vor sechs Uhr morgens; wir haben uns auf unserem Kissen eingerichtet, der Roshi hat uns mit Kentan begrüßt und nun haben die ersten 40 Minuten Zazen angefangen…

Vorschau: 6:00 Uhr: Kennt der Roshi die Antwort? / 6:04 Uhr: Wie bin ich hier hereingeraten? / 6:05 Uhr: Ich schmecke meinen Hunger… / 6:09 Uhr: …Hunger nach der Haltung / 6:11 Uhr: So sitzt der Buddha / 6:14 Uhr: Atemzählen und Bodybuilding / 6:19 Uhr: »Finden Sie meinen Geist« / 6:21 Uhr: Zen an der Volkshochschule / 6:24 Uhr: Wir werden Zen-Schüler / 6:30 Uhr: Wir bilden uns die Welt gut ein / 6:32 Uhr: Der Mönch / 6:37 Uhr: Warum hat der Barbar keinen Bart? / 6:40 Uhr: Wir stehen auf.

Altar im Zendo
Altar im Zendo

6.04 Uhr
Wie bin ich hier hereingeraten?: Ich sitze mit verschränkten Beinen auf einem kleinen runden Kissen und habe vierzig Minuten bewegungsloses Schweigen vor mir. Danach dreißig Minuten und wieder dreißig Minuten – und das Tag um Tag.
Mir fällt Shakyamuni Buddha ein:

„Und wenn nur noch Knochen von mir übrigbleiben, wenn mein Blut und meine Innereien verdorren: ich stehe nicht eher auf, als bis ich die Wahrheit durchschaut habe!“ [1]

hatte er vor über 2500 Jahren gelobt, als er sich unter den Bodhi-Baum setzte, um die Fragen seines Lebens zu lösen. Diese Entschlußkraft, diesen Mut wünsche ich mir.
Ich hatte mir damals, vor über zehn Jahren, nur eine Viertelstunde vorgenommen. In einem Buch hatte ich die Fotos gefunden, wie man sitzt. Ein Kissen, wie es da beschrieben stand, hatte ich nicht. Zafu nannten sie in dem Buch dieses mit Kapok oder Buchweizenspelze gefüllte Kissen, das man sich unter den Hintern schieben sollte. Statt des Zafu nahm ich eine alte Decke und rollte sie eng und schlang einen Gürtel darum, damit es hielt. Eine andere Decke hatte ich mir unter die Knie gelegt. Ich war alleine. Mir kam es seltsam vor, was ich versuchte, darum achtete ich darauf, alleine zu sein. Ich wollte mich auf diese gerollte Decke setzen und davor meine Beine kreuzen, soweit es ging. Ich wollte dann meine Hände im Schoß übereinander legen, meinen Rücken aufrecht halten und mit offenen Augen fünfzehn Minuten ausharren, ohne mich zu rühren. Das wollte ich ohne Zuschauer tun, denn mir erschien das Vorhaben lächerlich.
So zu sitzen, Za-Zen, die Haltung des Buddha, sei »das Herz des Zen«, hatte ich gelesen. Nur aus dieser Haltung heraus sei Erleuchtung zu erlangen und 2500 Jahre Zen und Buddhismus zu verstehen.
Erkenntnis und Erleuchtung suchte ich, die Wahrheit über Leben und Tod, und Befreiung von Schmerz und Leid. Zazen versprach Medizin.
Kaum hatte mein Po die Decke berührt, kaum waren die Beine gekreuzt, überfiel mich eine graue Leere. Ich merkte nach Minuten meine Knöchel, wie sie sich in den Boden bohrten. Mein Atem ging unruhig und ich fühlte eine Langeweile, die mich ängstigte. In der Leere schwirrten Gedanken und Empfindungen auf und ab und hin und her.
Die alten Meister gaben dem Anfänger die Aufgabe, den Atem zu zählen, hatte ich gelesen. Zählen? Wie denn, wenn ich über die Langeweile nachsinnen mußte? Wenn sich in die Langeweile eine Unzufriedenheit mischte! In den Ohren rauschte das Blut und im Mund sammelte sich Spucke.

„War ich das?“

Ich blickte auf und sah den Teppichboden meines Schlafzimmers vor mir. Wo war ich? Was machte ich?
Die Beine schmerzten. Ich fühlte meine Zehen nicht mehr! War das gefährlich? Wie lange saß ich in der Langeweile schon? Zwei Minuten? Zehn Minuten? Ich linste auf meine Uhr: neun Minuten übrig! Mein Rücken stöhnte. Mir war langweilig. Sterbenslangweilig. Das Atemzählen bereitete mir Magenschmerzen. Jeder Atemzug ein Widerwillen.

War ich das?

Langeweile und Schmerzen. Das kannte ich. Nichts Heroisches.
Schmerzen und Langeweile. Nichts Heiliges. Ich fühlte mich zuhause.
Es stieß mich ab und es zog mich an, das Sitzen in seiner Langeweile und dem Schmerz. War ich das? Ich hatte den Ruf des Löwen gehört. Was ich gesehen hatte, gefiel mir nicht; trotzdem wollte ich es wiedersehen.

Am nächsten Tag hatte ich heimlich wieder eine Viertelstunde auf der gerollten Decke gesessen. Am Tag darauf nocheinmal, und seitdem habe ich mit dem Sitzen weitergemacht, bis heute, hier im Zendo des amerikanischen Zen-Meisters Genpo Merzel Roshi, Abt der internationalen Zen-Gemeinschaft Kanzeon Sangha.
Meine Fragen, sind sie gelöst?

6.05 Uhr
Meine Nase juckt. Eben ist der letzte Gongschall verklungen. Tiefe Stille füllt den Saal. Über fünfzig Menschen sitzen dicht auf dicht und haben sich vorgenommen, in dieser Haltung eine ganze Woche miteinander zu verbringen, schweigend, und das Grübeln und Gieren in dieser Stille zu verbrennen: Sesshin.

Ich mache gedanklich einen Rundgang durch meinen Körper, um Verspannungen aufzuspüren und zu korrigieren. Es meldet sich ein kleiner Schmerz unter dem linken Schulterblatt, ein Ziehen oder Stechen, einen Zentimeter im Muskelinneren. Ich atme tief aus und stelle mir vor, wie ich den Schmerz meinem Atem mitgebe. Das habe ich vor Jahren in einem Buch über Meditation gelesen. Es hilft aber nicht. Es hilft nichts, was ich gelesen habe. Mein ganzes Leben hatte ich gelesen auf der Suche nach der Antwort, wie man sein Leben richtig lebt und wie man richtig stirbt. All die Abenteuerbücher las ich, von Karl May und Fedor Dostojewskij, Thomas Mann, Goethe, Platon und den anderen. Und ich habe sie alle gelesen, die meterweise Literatur über Zen.

In den Zen-Büchern stand etwas von der großen Befreiung. Da hatte ich von alten Meistern gelesen, die mit einem Runzeln der Augenbraue die furchtbarsten Krieger stoppen konnten, oder die Ochsen zähmten und auf Marktplätzen einfach sie selbst waren.

»Ich selbst sein…« hatte ich gelesen. Danach sehnte ich mich. »Ich selbst« – ohne Angst und ohne Schmerz. Schmerzen hatte ich genug.

Aber: »Wer ist ich?«

Das war meine Krankheit: »Wer bin ich?« Ich war nicht gern, wo ich herkam. Ich war nicht gern, wo ich hinging. Ich hatte Hunger. Es war nicht die Nahrung, die mir fehlte. Zu essen hatte ich genug. Ich aß und wurde nicht satt. Ich trank und bekam immer mehr Durst.
Ich suchte nach Sicherheit, nach Entspannung, nach einem frischen Atemzug, nach einem klaren Morgen. Unbefriedet war ich, und selbst wenn ein frischer Atemzug meine Lungen kühlte, an einem klaren Morgen, meine Geliebte neben mir – ich konnte nicht glücklich sein, denn ich wußte, dieses Glück ist von kurzer Dauer, es kann genommen werden und die Gier wird wiederkehren.

„Bin ich das?“

Mein rechter und mein linker Nebenmann und alle anderen hier im Meditationssaal, im Zendo, kennen die Krankheit. Der Buddha hat sie diagnostiziert und bezeichnete sie als die »Wahrheit vom Leiden«. Viele haben Medizin genommen. Essen. Rauchen. Trinken. Sex. Diät. Arbeit. Disziplin. Askese. Vernichtung von Körper und Geist, die sechs Jahre Kasteiung des Shakyamuni Buddha – schwere Nebenwirkungen, kein Entkommen, keine Antwort!
Als ich damals zum erstenmal auf meiner zusammengerollten abgewetzten Decke gesessen hatte, schmeckte ich meinen Hunger. Aber es war aus der Tiefe eine Antwort – ein Echo – gehallt:

„Ja, das bin ich“

Ich fühlte mich genährt.

Fußnoten

[1] Jataka b2.08 | Der Tag der Erleuchtung |  ↑
[Siddharta] umwandelte die Stelle von rechts, ging nach der Ostseite hin und stellte sich dort auf, nach Westen gewendet. Auf der Ostseite aber ist der Ort für den Sitz aller Buddhas; diese zitterte nicht und wankte nicht. Da merkte das große Wesen: „Dies ist der von allen Buddhas nicht verlassene, nicht wankende Ort; dies ist der Ort, wo man den Käfig der Lüste zerstört.“ Es nahm die Gräser an der Spitze und streute sie aus. Sogleich entstand ein Polstersitz von sechzehn Ellen. Die Gräser legten sich aber in solcher Ordnung hin, wie sie auch ein sehr geschickter Maler oder Tonbildner nicht hätte aufzeichnen können. Darauf ließ der Bodhisattva den Stamm des Bodhi-Baumes in seinem Rücken und fasste, nach Osten hin gewendet, folgenden festen Entschluss: „Gern sollen meine Haut, meine Muskeln und meine Knochen austrocknen, dazu soll in meinem Körper das Fleisch und das Blut vertrocknen; ich werde aber diesen Sitz nicht aufgeben, ohne die völlige Erleuchtung erreicht zu haben.“ So nahm er die Stellung mit gekreuzten Beinen ein, die unbesiegliche, selbst durch das Zusammentreffen von hundert Donnerkeilen unzerstörbare, und setzte sich nieder.

Jātaka-Erzählungen sind im Pali-Kanon ein Teil der Lehrreden ⓘ. Es existieren Übersetzungen ins Sanskrit und ins Tibetische und in andere Sprachen. Die Erzählungen gehen der Überlieferung nach auf Ananda, einen Jünger des Buddha, zurück. Ein Jātaka („Geburtsgeschichte“) ist eine Geschichte aus dem Leben des historischen Buddha, Siddhartha Gautama; später jedoch wurden mehr und mehr Lehrgeschichten eingefügt, die sich auf frühere Existenzen und andere Daseinsformen des Buddha beziehen. | Wikipedia |  ↑

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