Straßen, Zen und Bodybuilding 4

Das erste Morgenzazen hat gerade begonnen und schon haben wir Hunger – Hunger nach der Haltung.

Vorschau: 6:00 Uhr: Kennt der Roshi die Antwort? / 6:04 Uhr: Wie bin ich hier hereingeraten? / 6:05 Uhr: Ich schmecke meinen Hunger… / 6:09 Uhr: …Hunger nach der Haltung / 6:11 Uhr: So sitzt der Buddha / 6:14 Uhr: Atemzählen und Bodybuilding / 6:19 Uhr: »Finden Sie meinen Geist« / 6:21 Uhr: Zen an der Volkshochschule / 6:24 Uhr: Wir werden Zen-Schüler / 6:30 Uhr: Wir bilden uns die Welt gut ein / 6:32 Uhr: Der Mönch / 6:37 Uhr: Warum hat der Barbar keinen Bart? / 6:40 Uhr: Wir stehen auf.

Altar im Kanzeon Zen Center Salt Lake City
Altar im Kanzeon Zen Center Salt Lake City, 2008

6.09 Uhr
Ich atme ein: Eins. Ich atme aus: Zwei. Ich kehre zu meinem Atem zurück, auf mein Kissen und ziehe die dunkle Luft der Frühe leise in die Nase. Die Fenster stehen auf in unserem Zendo. Der Roshi hat es gerne kühl, denn er schwitzt leicht. Meditation erzeugt Energie, da kann einem heiß werden. Ich merke das an den riesigen Portionen, die ich Mittags verbrenne. Zweimal nehme ich aus den großen Töpfen nach. Alle türmen sich Berge von Reis und Gemüse auf den Teller.

Ich habe Hunger. Ich freue mich auf den Vormittag. In über zwei Stunden, um kurz nach acht, wird es Frühstück geben. Gut daß ich heute morgen im Aufenthaltsraum noch einen Kaffee geschlürft habe – etwas Heißes will ich im Magen haben. Eine Zigarette wäre auch nicht schlecht. Ich habe aber aufgehört zu rauchen. Kaffee und Zigaretten füllen die Leere nicht, der ich mich auf dem Meditationskissen aussetze. Wir haben noch drei Perioden vor uns, in der Haltung des Buddha, bevor der Gaumen Frühstück schmecken wird.

Jetzt, um kurz nach sechs, schmecke ich Buddhas Haltung. Seit zweieinhalbtausend Jahren ist diese Haltung überliefert und Genpo Roshi bringt als 81. Patriarch des Zen in direkter Übertragungslinie von Shakyamuni Buddha über Bodhidharma, Dogen Zenji und Taizan Maezumi Roshi die Haltung zu uns.

Shakyamuni Buddha hatte nach sechs Jahren des Suchens und der strengsten, bis zum nahen Tode führenden Askese erkannt, daß er auf diese selbstzerstörende Art keine Antwort auf seine Fragen erhalten würde und brach seine Kasteiungen ab.

„So gelangte ich auf meiner Suche nach Erkenntnis zu einem entzückenden Fleckchen Erde mit einem anmutigen Hain, wo der Fluß silbern dahinströmt, von schönen Ufern umsäumt, in dessen Umgebung menschliche Wohnungen Nahrung versprechen. Daher ließ ich mich mit dem Gedanken dort nieder: Dies bietet Genüge für das Streben nach der Versenkung.“ [1]

Shakyamuni Buddha scheint ein extremer Mensch gewesen zu sein, mit ungeheurem Willen und Streben. Vielleicht waren auch sein innerer Druck und seine Verzweiflung so hoch, höher als bei den meisten von uns. Als er diesen lieblichen Ort gefunden und sich niedergelassen hatte, tat er jenes Gelübde, von dem wir bereits hörten:

„Und wenn nur noch Knochen von mir übrigbleiben, wenn mein Blut und meine Innereien verdorren: ich stehe nicht eher auf, als bis ich die Wahrheit durchschaut habe!“ [2]

Es muß eine eigene Kraft in der Haltung sein, die auf so vielen Abbildungen des Buddha, in so vielen Statuen verbürgt ist; und die die Zen-Meister lehren und überliefern. In dieser Haltung hat Shakyamuni seine Verwirklichung erlebt und ist zum Erleuchteten, zum Buddha geworden. Die Haltung als solche, so heißt es, sei schon die Erleuchtung.

Ich kaue diesen Gedanken und sehe hoch und erschrecke: Mir gegenüber sitzen zehn und mehr Buddhas in der majestätischen Haltung und ich fühle fünfzig andere um mich her. Verstohlen wende ich die Augen zu Roshi; ein Berg, der träumt. Hin und wieder legt er den Kopf zur Seite, als wolle er eine Verspannung verjagen.

Fußnoten

[1] Majihima Nikaya, 26 §17 |  ↑

[2] Jataka b2.08 | Der Tag der Erleuchtung |  ↑
[Siddharta] umwandelte die Stelle von rechts, ging nach der Ostseite hin und stellte sich dort auf, nach Westen gewendet. Auf der Ostseite aber ist der Ort für den Sitz aller Buddhas; diese zitterte nicht und wankte nicht. Da merkte das große Wesen: „Dies ist der von allen Buddhas nicht verlassene, nicht wankende Ort; dies ist der Ort, wo man den Käfig der Lüste zerstört.“ Es nahm die Gräser an der Spitze und streute sie aus. Sogleich entstand ein Polstersitz von sechzehn Ellen. Die Gräser legten sich aber in solcher Ordnung hin, wie sie auch ein sehr geschickter Maler oder Tonbildner nicht hätte aufzeichnen können. Darauf ließ der Bodhisattva den Stamm des Bodhi-Baumes in seinem Rücken und fasste, nach Osten hin gewendet, folgenden festen Entschluss: „Gern sollen meine Haut, meine Muskeln und meine Knochen austrocknen, dazu soll in meinem Körper das Fleisch und das Blut vertrocknen; ich werde aber diesen Sitz nicht aufgeben, ohne die völlige Erleuchtung erreicht zu haben.“ So nahm er die Stellung mit gekreuzten Beinen ein, die unbesiegliche, selbst durch das Zusammentreffen von hundert Donnerkeilen unzerstörbare, und setzte sich nieder.

Jātaka-Erzählungen sind im Pali-Kanon ein Teil der Lehrreden ⓘ. Es existieren Übersetzungen ins Sanskrit und ins Tibetische und in andere Sprachen. Die Erzählungen gehen der Überlieferung nach auf Ananda, einen Jünger des Buddha, zurück. Ein Jātaka („Geburtsgeschichte“) ist eine Geschichte aus dem Leben des historischen Buddha, Siddhartha Gautama; später jedoch wurden mehr und mehr Lehrgeschichten eingefügt, die sich auf frühere Existenzen und andere Daseinsformen des Buddha beziehen. | Wikipedia |  ↑

Dieser Beitrag ist Teil 4 der Serie „Straßen, Zen und Bodybuilding“


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