Straßen, Zen und Bodybuilding 5

Wir wollen tun, was Buddhas tun: Sitzen und in uns selbst hineinleuchten.

Vorschau: 6:00 Uhr: Kennt der Roshi die Antwort? / 6:04 Uhr: Wie bin ich hier hereingeraten? / 6:05 Uhr: Ich schmecke meinen Hunger… / 6:09 Uhr: …Hunger nach der Haltung / 6:11 Uhr: So sitzt der Buddha / 6:14 Uhr: Atemzählen und Bodybuilding / 6:19 Uhr: »Finden Sie meinen Geist« / 6:21 Uhr: Zen an der Volkshochschule / 6:24 Uhr: Wir werden Zen-Schüler / 6:30 Uhr: Wir bilden uns die Welt gut ein / 6:32 Uhr: Der Mönch / 6:37 Uhr: Warum hat der Barbar keinen Bart? / 6:40 Uhr: Wir stehen auf.

6.11 Uhr
Fünfzig Buddhas sitzen heute morgen im Zendo. Fünfzig Menschen nach dem Modell des historischen Buddha. Die Haltung ist älter, reicht in vorgeschichtliche Zeiten zurück und der Buddha wird die Haltung bei seinen yogischen Lehrern gelernt haben. Zur Verkörperung der Erleuchtung hat er, Shakyamuni Buddha, sie gemacht.

Unser Modell hier im Zendo ist der Roshi. Er sagt: »Die Haltung ist dazu geeignet, Körper und Geist so zur Ruhe zu bringen, daß der Mensch tief hineinschauen kann in sein Wesen und zu der selben Erkenntnis kommen kann, wie Siddharta Gautama unter dem Bodhi-Baum: »Alle Wesen sind vollkommen, so wie sie sind. Das zu erkennen hindert sie nur ihr verwirrtes Denken und Wollen…«

Wie soll das Sitzen zu Erkenntnis führen? Ich erinnere mich, wie eine unserer Lehrerinnen, Catherine Genno Pagès Roshi, uns ein großes Einmachglas mit Wasser zeigte, in dem Erde gelöst war. Sie schüttelte das Glas, und das Wasser wurde wolkig schwarz und undurchsichtig vor schwebender Erde. Sie sagte: »Im täglichen Leben sind eure Gedanken aufgewirbelt wie die Erde in diesem Glas.« Sie stellte das Glas vor sich hin und setzte sich in Zazen. Nach einigen Minuten zeigte sie auf das Glas: »Die Erde hat sich auf dem Boden abgesetzt. Ihr könnt bis auf den Grund des Glases sehen. Die Erde, die Gedanken, sind noch da, aber euer Blick ist nicht mehr getrübt. Das ist Zazen: Eure Gedanken sinken auf den Grund und behindern nicht mehr die freie Sicht auf euer wahres Wesen, das immer da ist, wie euer Schatten. Dieses Gesetz ist universal! Es gilt für asiatisches Wasser und für asiatischen Geist, für amerikanisches Wasser und amerikanischen Geist, für europäisches Wasser und für europäischen Geist. Darum können wir den Prozess lehren, denn Wasser ist überall Wasser und Geist ist überall Geist. Ihr müsst nur sitzen und vertrauen…«

Sitzen und vertrauen. Ich drehe heimlich wieder meine Augen zu Roshi. Seine Haltung zu sehen gibt mir Kraft und Vertrauen. Vor allem in langen Sesshins brauche ich den Blick auf sein Modell.
Wie sitzt man? In unübertrefflich klaren Worten hat der Zen-Patriarch Dogen Zenji im November des Jahres 1243 den Mönchen des Klosters Kippoji die Technik des Zazen beschrieben:

Das Studium des Zen bedeutet die Übung des Zazen. Um Zazen zu üben, wähle einen ruhigen Ort, der nicht zugig oder feucht ist und benütze eine dicke Matte.

Der Ort für das Zazen sollte nicht zu dunkel sein, sondern Tag und Nacht mittelmäßig hell gehalten werden. Der Ort sollte im Winter warm und im Sommer kühl sein.


Wenn du Zazen übst, benutze ein kleines rundes Kissen. Sitze nicht auf der Mitte des Kissens, sondern lege das Vorderteil unter dein Gesäß. Verschränke deine Beine und lege sie auf die Matte. Das Kissen sollte die Basis deines Rückgrates berühren. Dies ist die Grundhaltung, welche von Buddha zu Buddha und von Patriarch zu Patriarch weitergegeben wurde.
Lockere deine Kleider und richte dich auf. Lege die rechte Hand unter die linke Hand, dann liegt die linke Hand auf der rechten Hand. Die Daumen sollten gerade gehalten werden und sich leicht berühren. Beide Hände sollen gegen den Bauch gelegt werden. Deine Daumenkuppen sollen in Höhe deines Nabels liegen, das ist die kosmische Mudra. Erinnere dich daran, den Rücken immer aufrecht zu halten. Neige dich nicht nach rechts oder links, nach vorn oder nach hinten. Halte deine Ohren in einer Linie mit den Schultern. Auch die Nase und der Nabel sollten im Lot sein. Lege die Zunge am oberen Gaumen deines Mundes an. Halte Lippen und Zähne geschlossen und atme durch die Nase. Die Augen sind in ihrer natürlichen Weise geöffnet. Wenn du beginnst, stimme Körper und Geist durch einen tiefen Atemzug ein.


Dies ist der erhabene Weg des Zazen. Zazen ist nicht das Mittel zur Erleuchtung; Zazen selbst ist das vollendete Handeln Buddhas. Zazen ist reine, natürliche Erleuchtung.
[1]

In Genpo Roshis Zendo ist es erlaubt, auf dem Stuhl sitzend Zazen zu üben. Einige sitzen im japanischen Seiza-Sitz, auf den Knien und die Beine untergeschlagen; andere benutzen den burmesischen Sitz, dabei liegen die Beine verschränkt voreinander. Ich selber sitze so und fühle mich wohl – wenn ich auch ahne, daß der volle Lotussitz die stabilste Basis für Zazen bietet. Doch der volle Lotussitz ist eine Frage von hingebungsvoller jahrelanger Übung, vor allem Dehnübungen. Denn Orthopäden und Physiotherapeuten raten: »Gehen Sie niemals für längere Zeit in die volle Lotusposition, wenn Sie nicht den vollständigen Spagat in alle Richtungen beherrschen. Andernfalls üben die nicht genug elastischen Muskeln, Bänder und Sehnen einen Zug auf das Kniegelenk und seine Bauteile aus, dem das Knie irgendwann ausweicht und mit einer Verletzung antwortet. Dann ist es mit dem Sitzen auf dem Boden vorbei…«

Egal, ob wir auf dem Stuhl sitzen oder wie die Buddha-Statue im vollen Lotus-Sitz: es ist hart genug, stundenlang im Seiza-Sitz unbewegt zu knien, oder ohne zu wackeln auf dem Stuhl zu verharren.

Ich schaue hinüber zu einer alten Dame, die mit ihrem runden Rücken unermüdlich mit uns anderen sitzt, zusammengesunken, krumm – aber stolz und aufrecht. Die alte Dame läßt mir Tränen in die Augen kommen und ich sehe in ihr, daß Zazen das »vollendete Handeln Buddhas ist, reine, natürliche Erleuchtung«. Darum bin ich hier, darum bin ich heute morgen auf mein Kissen geschlichen, auch wenn ich Schmerzen habe und häufig verzage: ich will tun, was Buddhas tun: Sitzen und in mich hineinleuchten.

Fußnoten

[1] Dogen Zenji’s SHOBOGENZO, Theseus Verlag Zürich, 1989, Band 1, 10. Zazengi   ↑

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